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November 2020

Hauchzarter Stoff oder: Der Zukunfts-Soli

Ein paar Worte vorab. Ich bin mir der unendlichen Not, in die das Virus die allermeisten Menschen stößt, bewusst. Jeden Tag, jede Stunde. Habe selber schon tiefe Täler durchschritten und manchmal war’s knapp. Weitere werden folgen. Aber. Ich kann und will mich nicht beugen. Will nicht mehr weinen und fluchen. Will Kräfte freisetzen. Meine und die anderer. Daraus resultiert dieser Text. Die ersten Sätze kamen wie so oft morgens am See zu mir. Manchmal glaube ich er kann sprechen.

Starren auf Zahlen

Wird das große C sich verziehen, bevor wir abzweigen? Gar umkehren? Ich möchte nicht biblisch werden, aber das ist doch eine Mahnung. Ein Aufschrei. Wir haben es verbockt. Das wissen wir schon lange und auch, dass das jetzt dieChance wäre, ganz vieles anders zu machen. Wirklich zu zeigen, wozu wir imstande sind. Denn der Mensch ist sauschlau, das beweist er immer wieder. Schlau und freundlich und voller Gefühl. Es macht mich alle, wenn ich daran denke, dass dieses ganze geballte Potential seit Monaten von drückenden Sorgen und dem Starren auf Zahlen daran gehindert wird, sich mit einem Riesenknall zu entfalten. Inklusive Sternenregen. Tieftraurig macht mich das. Man muss die Ideen endlich frei lassen, sie füttern und pimpern und verwöhnen.

Statt aber zu überlegen, wie wir leben wollen, müssen viele die Miete herbeigrübeln, tief gebeugt über Anträgen, die nicht zum Verstehen gemacht sind. Statt einander in die klugen Augen starren wir auf Bildschirme, die unser Lebensraum geworden sind. Digitale Revolution? Ich pfeif drauf. Sie macht uns krank. Krank und traurig und einsam. Statt die Schulen umzubauen, trösten wir unsere weinenden Kinder, weil sie, endlich wieder vereint und da, wo sie hingehören, jetzt in manchen Stunden Maske tragen müssen.

 

Weich wie Seide

 

Fangen wir mit den Masken an. Wir brauchen welche, hinter denen wir Gesicht zeigen können. Nicht Smileys sollen uns anlächeln, sondern wir einander wollen uns wieder anstrahlen. Mit den Lippen. Fröhlich, sinnlich, wärmend. Wo also sind die Masken aus hauchzartem Stoff, die das ermöglichen? Durchsichtig, leicht wie Tüll und weich wie Seide? Und wenn wir dann schon mal dabei sind: Lasst uns Kleidung erfinden, die Umarmen wieder gefahrlos macht. Kreativität braucht Nähe. Eine berührungslose Gesellschaft wird saft- und kraftlos. Am besten wären Kleider die sich anfühlen wie Haut.

Ich bin sicher, die Menschheit ist dazu imstande. Oder manche Menschen. Also gebt ihnen Geld und Sicherheit, zumindest für eine Zeit, statt es in Industrien zu pumpen, die ohnehin tot sind. Gebt es allen, die Ideen haben. Damit sie ihre Ideen überhaupt erst einmal sehen können. Sie fliegen in Schwärmen um uns herum. Wir müssen sie nur aus der Luft pflücken, wie wirbelndes Herbstlaub.

 

Sexy Nahverkehr

 

Es sind Ideen für Krankenhäuser, aus denen kein Schluchzen dringt, sondern liebevolles Geflüster. In denen keine Hand blass und schlaff über den Bettrand hängt, sondern eine jede von einer anderen gehalten wird. Ohne Handschuhe. Ideen für Pflegeheime, in denen niemand alleine sterben muss. Denn wo allein gestorben wird, ist eines bereits tot: Die Menschlichkeit. Das lassen wir kein zweites Mal zu. Wir haben gelernt.

Es sind Ideen für Schulgebäude, derart von Frische geflutet, dass auch das letzte Aerosol sich beleidigt in die Ecke stellt und dort verkümmert wie derzeit viele Pflanzen und Tierarten. Es sind Ideen für Büros, in deren Weiten wir trotzdem Seite an Seite Ideenkinder und –kindeskinder gebären können. Zum Beispiel Ideen für einen öffentlichen Nahverkehr, der so sexy ist, dass keiner mehr Auto fahren will. Einfach, weil es so ein verfluchtes Vergnügen ist, Bus und Bahn zu benutzen. Wir werden gar nicht mehr aussteigen wollen. Egal! Bringen wir eben dort die nächsten Ideen zur Welt oder kratzen sie von den blitzblanken virenfreien Türgriffen.

 

Schunkelnde Einfälle

 

Ideen für Theater, Kinos, Tanzsäle und Clubs, in denen wir wieder tanzen und lachen, lieben und weinen, schmusen und knutschen können. Und mehr. Dass dabei weitere Ideen entstehen, liegt auf der Hand, das kapiert jedes Kind, und es werden besonders schöne sein, soviel steht fest. Vielleicht sind einige darunter für Lokale und Gaststuben, Brasserien und Trattorien, piekfeine Restaurants und schlichte Wirtshäuser. In denen wir herzlich, mit Hand- und Augenaufschlag statt Desinfektionsmittel und Kontaktdatenbogen empfangen werden.

Dort schlagen wir uns erst einmal die Bäuche voll. Ein voller Magen denkt nicht gern, ein leerer aber auch nicht. Dazu singen die Gläser, denn ein guter Wein hat noch niemals geschadet auf der Suche nach Einfällen. Sie können nämlich schwimmen und nebenbei noch schunkeln. Oder mitsingen. Es ist das Lied der Zukunft. Sie fängt in diesem Augenblick an. Oder war das schon im Februar? Das Geld jedenfalls, das alle bekommen sollen, die an ihr mitarbeiten, ist genau das: Ein Zukunftssoli.

 

Hab ich was vergessen?

 

Dank ihm wird es eine Ideenflutwelle geben, vor der niemand fliehen muss. Eine Schwemme, eine weltumspannende Invasion. Das Wort Pandemie wird zum Lieblingsbegriff aller Menschen, die Vokabel Überbevölkerung milde belächelt und alsbald aus dem Duden entfernt. Denn auch für unsere Spezies brauchen wir ihn nicht mehr. Dank der neuen Räume ist Platz genug für alle, überall und unter dem frenetischen Jubel der Pflanzen und Tiere. Ich kann ihn schon hören.

So. Das war’s von meiner Seite. Hab ich etwas vergessen?

 

 

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