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Februar 2020

Vom Trauern, Sterben und Leben: Herr Rudi und die anderen

Es soll Menschen geben, die bereiten Dir derart Kopfschmerzen, da hilft keine Tablette mehr. Und dann gibt’s Menschen – selten, aber doch, so hört man –, die balancieren einem die Gehirnwindungen auf zärtlichste Weise aus.

Wenn die ganze Welt in den Hände zerbricht, wird es einen Moment zwischen Dir und dem Universum ganz, ganz still.  Anna Herzig, Herr Rudi

„Verknallte Grüße, euer Team von Voland & Quist“ heißt es am Ende der Verlags-Mail zum Erscheinen von „Herr Rudi“. Spätestens da wusste ich, dass ich Herrn Rudi kennenlernen muss. Geahnt habe ich es schon, als ich las, wovon Anna Herzigs Buch mit dem fröhlichen Cover handelt: Vom Sterben und Trauern. Vom Tod und, allem voran, vom Leben. Wie es so häufig ist bei Geschichten, die sich um Verlust und Abschied drehen.

Weil ich erstens einige solcher Lebens-Geschichten gelesen habe in den letzten Monaten, muss ich trotz der Büchertürme, die im Vorfeld der Leipziger Messe um mich herum Dimensionen wachsen, die eine Art umgekehrte Höhenangst verursachen, kurz was schreiben über diesen Herrn. Und zweitens bin ich auch ich verknallt.

Die anderen Werke mussten mit auf’s Gruppenbild, auch wenn ich mich ihnen aus unterschiedlichen Gründen hier nicht widme. Allen gemein ist: Es sind unvergessliche Lektüren, die ich immer wieder zur Hand nehme und nehmen werde. Jasmin Schreibers „Marianengraben“ ging Herrn Rudi voraus und ich werde es in Kürze  in der Berliner Zeitung rezensieren. Schreibers Blog Sterben üben sei aber hier schon von Herzen empfohlen. Ich lese dort seit langem mit und vieles mehrfach.

Zwei Sorten Tränen 

Susann Pásztors Roman „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ brachte mich vor zwei Jahren zum Weinen – um die Enge in der Brust auszuhalten, aber auch vor Glück. Bei der Lektüre von „Marianengraben“ musste ich oft an den jungen Phil und die sterbenskranke Karla denken. Weil in beiden Büchern zwei so unterschiedliche Menschen im Angesicht des Todes Halt und Sinn aneinander finden.

Über Isabel Bogdans atemloses Trauerbuch „Laufen“ habe ich hier bereits geschrieben. Im Gespräch nach der Lesung im Ocelot fiel der Titel „Trauer ist das Ding mit Federn“. Auch so ein Zwei-Sorten-Tränen-Buch. Ein schmales, riesiges Wortringen. Und Maggie Nelson? „Die roten Stellen“ kommen, wie es der Untertitel „Autobiographie eines Prozesses“ ahnen lässt, zunächst nüchtern daher. Doch weil die Autorin im Zuge der Recherchen zum Mord an ihrer Tante das Leben, Lieben und Sterben vieler Menschen Revue passieren lässt, weil auch sie das Unbegreifliche durch Schreiben versucht begreifbar zu machen, gehört es für mich in diese Reihe.

Gespräche mit dem Wein

Und nun also „Aufritt Herr Rudi, bitte schön.“ Mit diesem Satz auf einer sonst weißen Seite beginnt das Buch und nach wenigen weiteren weiß man, dass Herr Rudi von nun an im Herzen sitzt und da auch nicht mehr weggeht. Eigentlich will man sofort hin, in dieses Hotelzimmer. Damit er nicht länger allein ist, mit seinem Hexenschuss. Mit seiner Diagnose. Mit seinem seit 40 Jahren gelebten Verlust von Livi, der einzigen Liebe seines Lebens.

Der Hexenschuss holt den Herrn Rudi zurück. Realität ist dort, wo Schmerz ist. Ihm fällt der geöffnete, noch fast volle Rotwein wieder ein, der in Griffweite steht. Herr Rudi trinkt aus der Flasche und weint. Trinkt und weint und trinkt und weint, während er auf dem Boden kniet, mit der einen Hand abgestützt, in der anderen die Flasche. >Que sera seraaaa<, grölt er zwischen zwei Schluchzern, >whatever will be, will be<. Dann summt er, weil er den Rest vergessen hat.“

Die Gespräche, die Herr Rudi gleich zu Beginn mit der toten Livi, aber auch mit der Rotweinflasche führt, später mit seinem Freund Fritz und immer wieder mit Livi, gehören in ihrer Knappheit zum Eindringlichsten, was ich je über Einsamkeit gelesen habe. Und lassen zugleich eine große Liebe sichtbar werden, ihre Leichtigkeit und Tiefe, ihre Ausgelassenheit und Aussichtslosigkeit. Herr Rudi und Livi heiraten nach der Krebsdiagnose. Da ist Livi 19.

Aber diese Musik. Damals haben sie nackt im Haus getanzt, wenn niemand da war. Als die Livi gegangen ist, haben dem jungen Herrn Rudi Dinge wehgetan, von denen er gar nicht wusste, dass sie wehtun können. Regungslos ist er in der Küche gesessen, als wäre er ein Brotkorb, der zum Inventar gehört. Was wisst ihr von der Liebe, haben die Eltern der Teenager damals gesagt, was wisst ihr denn schon? Der Vater von Herrn Rudi hat das im Nachhinein bereut, weil er seinen Sohn noch nie so leiden gesehen, gravierend unterschätzt hat, was die beiden füreinander waren.

Alte Seelen, die sich erkannt haben, möglicherweise.“

Nackt auf dem Teppich

Die Beerdigung, Rudis Schrei „Sie mag keine Rosen!“ und der anschließende Zusammenbruch stellen das Herz auf eine Zerreißprobe. Ich hielt das Weiterlesen nur aus, weil mir der Herr Rudi da schon so nah war, dass ich das Gefühl hatte, ihn jetzt nicht alleinlassen zu dürfen. Und weil ich mehr über diesen Mann erfahren wollte, über Livi, über die Freundschaft zu Fritz. Warum die Badewanne im Hotelzimmer voller Blaubeeren ist und wie es eigentlich sein kann, dass man sich ausgerechnet in einen Gerichtsvollzieher verknallt.

Das ist nämlich Herr Rudis Beruf und neben anderen Eigenarten macht ihn seine gelegentlich sehr eigenwillige Ausübung zu einer Figur, die man gar nicht anders kann als lieben. Seinen besten Freund Fritz lernt er so kennen:

Das ist gut dreißig Jahre her. Da hat er einem Schuldner – ein alleinerziehender Vater von drei Kindern – Geld gegeben und gesagt: >Das ist schade, dass sie wegen so einem Blödsinn eine gerichtliche Betreibung riskiert haben. Sein’s bitte nicht so dumm.“ Manchmal brennt einem der Arsch so sehr, dass man den Stolz beiseite schiebt und für das höfliche Ablehnen kein Platz mehr ist. >Kriegen Sie keine Probleme, wenn Sie mir das Geld geben?<, fragt der Schuldner. >Wer soll’s denn erfahren? Probleme, schaun’s, das sind menschliche Erfindungen. Damit einem nicht langweilig wird.<

So ist Herr Rudi. Außerdem liegt er gerne nackt auf dem Teppich und trägt immer weiße Converse-Leinenschuhe. Seine „Quasi-Patenkinder“ haben ihm einst vier Paar geschenkt, und weil Herr Rudi Einkaufen „ein Gräuel“ ist, trägt er sie, „tagein, tagaus“. Nicht weil es Converse sind. Und „vielleicht, denkt er, hätten die Menschen weniger Schulden, wenn die Marken nicht so glücklich machen und Barfußgehen weniger wehtun würde“. Er hat neun Kartons voller Zettel, auf denen er Ideen zum Thema Regen notiert hat. Livi hat ihn darum gebeten. Und „ein allerbester Kuss muss für den Herrn Rudi nach selbst gemachter Zitronen-Orangen-Marmelade schmecken.“

Das Leben in seinen Details

Während man den Herrn Rudi nach und nach kennenlernt, seine Ansichten, Gewohnheiten und Gefühle, vergisst man, dass auch er bald sterben wird. Stattdessen sieht man ihn und Livi vor sich, im Waldbad.

Der Herr Rudi und die Livi laufen. Springen ins Wasser, tauchen wieder auf und erzählen sich kleine und große Geschichten, die nur im gemeinsamen Universum Gültigkeit haben. Dann schauen sie sich an und der Rest der Welt kann scheißen gehen.“

 Vielleicht haben „Herr Rudi“, die anderen genannten (und viele mehr) Bücher und auch Kinderbücher über das Sterben und Trauern (mit ihnen habe ich mich vor Jahren in der Berliner Zeitung beschäftigt) deswegen so eine Lebenskraft. Weil das Kleine im Rückblick so groß wird. Das Leben in seinen Details. Und weil das Große, die Liebe, der Schmerz, dort ebenfalls den Raum bekommt, der ihm in schnellen, technischen, funktionalen Zeiten im echten Leben genommen wird. In der Trauer schon nach wenigen Monaten als pathologisch angesehen wird. Dabei ist es doch so:

Damals war damals. Aber manchmal ist das Damals so nah, dass es nicht anders kann, als wehzutun.“

 Zu lesen, dass es vielen so geht, hat etwas ungeheuer Tröstliches. Und macht Bücher wie das von Anna Herzig, wie Jasmin Schreibers, Isabel Bogdans, Max Porters, Susan Pàsztors und Maggie Nelsons Werke, zu unersetzlichen Begleitern.  Sie tragen das Leben in sich, in seiner ganzen verflixten, verrückten, kaum erträglichen Fülle. In die man beim Lesen gleich mit verknallt ist.

Anna Herzig: Herr Rudi. Voland&Quist, 140 Seiten, ISBN 978-3-86391-251-2

Jasmin Schreiber: Marianengraben. Eichborn, 254 Seiten, ISBN 978-3-8479-0042-9

Susan Pàsztor: Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster. KiWi Taschenbuch, 288 Seiten, ISBN 978-3-462-05186-5

Isabel Bogdan: Laufen. Kiepenheuer&Witsch, 208 Seiten, ISBN 978-3-462-05349-4

Maggie Nelson: Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, 226 Seiten, ISBN 978-3-446-26591-2

Max Porter: Trauer ist das Ding mit Federn. Aus dem Englischen von Uda Strätling und Matthias Göritz. Kein&Aber Pocket, 128 Seiten, ISBN 978-3-0369-5947-0

 

 

 

 

 

 

4 Antworten zu “Vom Trauern, Sterben und Leben: Herr Rudi und die anderen”

  1. Liebe Barbara
    uns beiden geht es ja gleich. Wenn es nur nicht so viele (gute) Bücher gäbe, die wir ja eigentlich alle lesen wollen. Jedesmal, wenn ich Deinen Blog lese, bekomme ich wieder neue Hinweise, was noch zu lesen wäre. Wenn sich das RuB (Regal ungelesener Bücher) nicht schon von selbst füllte. Danke auch für diesen Tipp.

    • Barbara Weitzel sagt:

      Lieber Wolfgang, ja. Das zweite Leben zum Lesen fehlt. Oder wenigstens der Tag zwischen Sonntag und Montag. Wir hatten es ja schon oft davon. Doch ich fürchte, diese süße Qual des immer zu vollen RuBs gehört zum Leseleben. Sei herzlich gegrüßt und: Bis Leipzig. Wo weitere hunderte auf uns einstürmen.

  2. Bri sagt:

    Liebe Barbara,
    gestern haben wir uns kennen gelernt bei Franziska Hauser – und ich wusste doch, dass ich Deinen Blog auch schon gelesen habe.
    Da musste ich heute gleich noch mal vorbeischauen – Du hast mir Rudi auf meinen Stapel gepackt. Susanne Pasztors und Isabell Bogdans angesprochene Romane mochte ich auch sehr, Marianengraben steht noch auf dem Wunschzettel, der jetzt komplettiert wird durch Rudi … vielen Dank dafür. LG, Brigitte

    • Barbara Weitzel sagt:

      Liebe Brigitte, ich freue mich sehr, dass ich anregen konnte. Wenn Du „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ magst, wirst Du „Marianengraben“ lieben. Und Herr Rudi… wie geschrieben, eine sehr besondere, unvergessliche Begegnung. Und nun werde ich mich mal im feinen Buchstoff umgucken. Liebe Grüße, Barbara

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