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Gegenwart lesen: Mit der Faust in die Welt schlagen
Viel darüber gelesen. Fast schon zu viel. Denn fast hätte ich es nicht mehr gelesen. Bedeutungs-Overkill. „Buch zur Stunde“. Chemnitzerklärbuch. Den Osten verstehen. Wie Nazis entstehen. Was für eine Last auf einem gar nicht so breiten Buchrücken.
Dann doch (zum Glück) das Buch gelesen, heute Nacht zu Ende. Lange vorher aber schon das Über-Lukas-Rietzschel-Gelesene abgeschüttelt. Man tut dem Buch Unrecht mit solchen Erwartungen. Rietzschel erklärt nicht. Er erzählt. Flutlichtklar und unerbittlich. In kurzen, protokollartigen Sätzen beobachtet der unfassbar junge Autor (geb. 1994), eine Zeit, ein Land, ein Milieu. Guckt in die Köpfe und Herzen der Menschen. Nie triefend, nie urteilend. Mitfühlend distanziert. Dabei erfährt man mehr über die Menschen, entsteht mehr Atmosphäre als im episch-analytischem Geschwurbel anderer Wer-wir-sind-und-wie-wir-es-wurden-Bücher.
Eine Atmosphäre, die einen bald mehr beklemmt als man mal ebenso aushalten kann. Trostlos. Aber so hinterrücks.
„Das Einkaufszentrum war nicht groß. Es zog sich ebenerdig in die Länge. Auf den Bänken in der Mitte des Ganges saßen alte Frauen und hielten sich an ihren Rollatoren fest. Jemand hatte mit dem Fuß ein Loch in den Aufsteller getreten, der ein Schlagerdouble ankündigte. Tobi lief langsam neben Großavter her, um ihn nicht zu überholen. Leere Läden auf jeder Seite des Ganges. Vor der kleinen Mc-Donalds-Filiale standen ein paar Jugendlich an. Dort kaufte Großvater das Eis für Tobi und Philipp.“
Weil zuerst Philipp – „nur“ – mit den Rechten flirtet und später der jüngere Tobi in der Szene Halt und Sinn findet, ist „Mit der Faust in die Welt schlagen“ natürlich auch ein Buch über Wut. Sie wächst Seite für Seite, man kann ihr dabei zusehen. Für mich ist es aber vor allem ein Buch über die Trostlosigkeit, in der sie keimt. Und über Sprachlosigkeit.
„Was ist das?“, fragte Philipp wieder. „Nichts“, sagte die Lehrerin. Sie hatte schneller geantwortet als der Direktor. „Warum hat er dann den Stein abgedeckt?“ „Das ist doch nur eine Schmiererei.“ „Die deckt doch sonst auch niemand ab.“ „Doch.“ „Hab ich aber noch nie gesehen.“ (…) „Geh jetzt rein.“
Auf den Stein auf dem Schulhof hat jemand ein Hakenkreuz gesprüht. Das Schweigen und „Frag-nicht“ zieht sich durch das ganze Buch. Wenn der Opa immer ganz still und starr wird, wenn er an einem bestimmten Gebäude vorbeifährt. Wenn die Familie vor den Fernsehbildern brennender Gebäude sitzt. Wenn Tobi auf einen Anruf wartet, den einen, der ihn abhalten würde, mit Menzel und Ramon in das Auto zu steigen. Sein Warten und kindliches Hoffen auf Halt zerfallen immer in diesen Sätzen. Mutter sagte nichts. Vater schwieg. Philipp blieb stumm.
Trostlosigkeit. Sprachlosigkeit. Hoffnungs- und Haltlosigkeit. Und Einsamkeit. Im Falle von Uwe, der seinem Leben im See ein Ende setzt, über den Tod hinaus. In der Bäckerei, wo die Trauerfeier stattfindet, bleiben mehrere Tabletts mit Brötchen und Thermoskannen Kaffee übrig. Drei Menschen sind gekommen, zwei davon sind Uwes Eltern.
Aus all dem kann Wut wachsen. Mit der Faust in die Welt, sie erhoben durch Chemnitz, mit dem Brandsatz Richtung Unterkunft. Heidenau kommt auch vor im Buch. Andere Orte kommen einem in den Sinn. Gegenwärtige, kürzliche und länger zurückliegende. Orte, deren Namen zu Zeitgeschehen wurden. Rostock. Solingen. Und weiter zurück.
Rietzschel erklärt nicht, er beschreibt. Ja, Ostbiografien. Ja, die Wut. Vor allem aber, wie Wut entsteht. Nicht nur heute. Nicht nur im Osten. Solingen liegt in NRW. Die AfD sitzt im Bundestag, nicht nur im sächsischen Landtag. Hoffnungslosigkeit wohnt an vielen Orten. Und Verstummen ist überall brandgefährlich.
Florian Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen. 320 Seiten, Ullstein 2018, ISBN-13 9783550050664