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Von Gewalt und Kraft: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt
Die Verbindung von Zärtlichkeit und Strenge ist eine unschlagbare Kombination. Wie Not und Intelligenz, die nicht durch formale Bildung geschliffen ist. Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt
Eine gute Freundin und ich, wir haben am selben Tag Geburtstag, schenken einander seit rund 15 Jahren jedes Jahr ein Buch. Und beweisen Jahr für Jahr, dass man auch Vielleserinnen noch überraschen kann. Ja, Lücken schließen. In diesem Fall war es eine Riesenlücke. Wie konnte mir Maya Angelous Autobiografie (oder besser: der erste Teil. Die anderen fünf sind, soweit ich es gesehen habe, nicht auf Deutsch erschienen) entgehen? Was für ein Leben.
Na gut, versuch’s. Zeig was Du kannst. Es geht nicht, heißt immer: Es geht mich nichts an. Hab ich Dir oft genug gesagt. Taugt beides nichts.
Sagt Vivian Baxter, als Tochter Maya ihr eröffnet, dass sie als erste Schwarze bei der Straßenbahn von San Francisco arbeiten will. In einer blauen Uniform. Als Schaffnerin. Nach der Lektüre von „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ hegt man nicht den winzigsten Zweifel, dass es schaffen wird. Gegen alle weißen Widerstände, gegen alle männlichen Widerstände. Selbst wenn man vorher nichts über Maya Angelou wusste. Die über ihre Mutter schreibt:
„Das war Vivian Baxter Jackson. Hoffte das Beste, rechnete mit dem Schlimmsten und geriet nie aus der Fassung.“
Rau behütet
Kann sein, dass ich mich auf’s Peinlichste oute, aber ich wusste wenig. Ein leises Klingeln im Hinterkopf, als ich den Namen las. Flüsternde Assoziationen, Bürgerrechtlerin, Martin Luther King, Malcom X… Ich wusste nicht, was Maya Angelou (1928-2014) noch alles war: Tänzerin, Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin, Journalistin, Lyrikerin, alleinerziehende Mutter neben all dem und – was für eine Autorin.
Denn über den Weg dorthin, zur Schaffnerinnen-Uniform und weiter auf die Bühnen und an die Mikrofone, zur Bekanntheit über Amerikas Grenzen hinaus, wusste ich auch nichts.
Die einschneidende Verwundung geschieht, als Maya Angelou acht ist. Zwar war auch vorher der Alltag in Stamps, Arkansas, „wo die meisten schwarzen Kinder nicht wirklich wussten, wie die Weißen aussahen“, auch kein Puddingessen, doch erleben Maya und der über alles geliebte Bruder Bailey im Hause ihrer Momma eine raue, stabile Form des Behütetseins. Die Mutter, geschieden, lebt mit ihrem Freund Mr. Freeman in Kalifornien. Beim ersten Versuch, die Kinder dort groß werden zu lassen, vergewaltigt Mr. Freeman Maya. Die Lektüre dieser Seiten fordert einem viel ab:
„Dann kam der Schmerz. Ein Bruch, das Eindringen, das die Sinne nahm. Die Vergewaltigung eines achtjährigen Körpers: das Nadelöhr, durch das ein Kamel nicht gehen kann.“
Erst Frau, dann Mädchen
An den Rand des Erträglichen geriet ich jedoch beim Lesen der Gerichtsverhandlung – und deren Ausgang. Mayas Peiniger wird zu einem Jahr und einem Tag verurteilt, muss seine Haft aber nie antreten: „Sein Anwalt (oder wer auch immer) bekam ihn noch am selben Tag frei.“
Maya verfällt ins Schweigen, für lange Zeit. Bis sie beim alljährlichen Fischessen unter freiem Himmel die gleichaltrige Louise kennenlernt. Die lässt sich nicht abwimmeln und plötzlich geschieht etwas mit Maya, was sie als „das Unbekannte in mir“ beschreibt. Lousia kitzelt es hervor. Die Mädchen albern herum. Sie kichern. Und Angelou schreibt, die alte Wunde und die neue helle Welt in wenige Worte packend:
„Nachdem ich schon seit drei Jahren eine Frau war, wurde ich jetzt zum Mädchen.“
Dieses frühe Erlebnis von männlicher Gewalt, von Ohnmacht und Überwältigung im denkbar grausamsten Sinne, taucht natürlich immer wieder auf in ihrer Lebenserzählung. Direkt, und in den sprachlichen Bildern. Über San Francisco Anfang der Vierziger Jahre, Maya ist 13, schreibt sie:
„Die Stadt reagierte auf den Krieg wie eine kluge, bedrängte Frau. Sie gab auf, was nicht zu halten war, und sicherte das Erreichbare. So wie diese Stadt wollte ich als Erwachsene sein. Freundlich, aber nie überschwänglich, kühl, aber nicht empfindungslos, manierlich, aber nicht steif.“
Lebenslange Verheerung
Da schreibt freilich die erwachsene Frau, ordnet, reflektiert. An anderer Stelle darf sich das so entsetzlich falsche, schmerzhafte Schamgefühl breitmachen, das jeder wiedererkennt, der sich schon einmal mit Missbrauch beschäftigt hat. Entsetzlich falsch und schmerzhaft auch für den, der von ihm erzählt bekommt, weil sie, damals wie heute, ja die falscheste aller Personen befällt und quält: Das Opfer. Über den Tag ihres High-School-Abschlusses schreibt Angelou:
„Ich hoffte, dieser Morgen würde immer in meiner Erinnerung bleiben. Das Sonnenlicht war noch jung, und der Tag hatte noch nichts von der beständigen Reife der kommenden Stunden. Unter dem Vorwand, nach meinen neuen Bohnen zu sehen, lief ich barfuß in meinem neuen Kleid in den Hinterhof und überließ mich der zärtlichen Wärme. Ich dankte Gott, dass er mich, ungeachtet meiner Sünden, diesen Tag erleben ließ.“
Dieser kleine Einschub von drei Worten, ungeachtet meiner Sünden, erzählt, wie ich finde, alles über das Ausmaß der lebenslangen Verheerung, die sexueller Missbrauch bei Kindern anrichtet. Selbst wenn sie, wie Maya Angelou, nie den Sinn für den Reichtum des Lebens, ihre Möglichkeiten, aber auch ihre eigene Kraft verlieren.
Dienende Geister
Das Nebeneinander von Schrecken und Geborgenheit, von heller Freude und dunkler Erinnerung zieht sich durch das ganze Buch – so wie die Kontraste Hass und tiefe Verbindung, Machtmissbrauch und Selbstermächtigung, Ausgrenzung und Solidarität. Das fängt, wie anfangs erwähnt in den leuchtenden Szenen im Laden der Großmutter an, dessen Sogkraft nicht nur auf ein Kind man förmlich spürt:
„Das Licht der Lampe gab unserer Welt eine sanfte Atmosphäre der Vertrautheit, in der ich nur flüstern und auf Zehenspitzen umherlaufen mochte. Die Gerüche von Zwiebeln und Kerosin und Orangen hatten sich über Nacht vermischt und wurden nicht gestört, bis der Holzbalken aus der Tür entfernt wurde und die frühe Morgenluft mit den Körpern der Menschen hereinströmte…“
An anderer Stelle schreibt Angelou über diesen Ort: „Einsam und verlassen sah er am Morgen wie das Geschenk eines Fremden aus.“
Ein anderes Geschenk, welches das Leben ihr macht – und das sie, lebenswillig, ja, lebenswütend, öffnet und nicht mehr loslässt, ist die Literatur. „Während dieser Jahre in Samps begegnete mir William Shakespeare und ich verliebte mich in ihn“ heißt es schon nach wenigen Seiten, und später, als der endgültige Abschied Richtung San Francisco ansteht, wird sie über ihre Förderin sagen:
„Mrs. Flowers konnte mir nicht fehlen, denn sie hatte mir das Zauberwort verraten, mit dem ich ein Leben lang dienende Geister herbeirufen konnte: Bücher.“
Innerhalb der Menschheit
Geister, die das ihre beigetragen haben diesem großen, widerständigen Leben. Das unter anderem „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ hervorgebracht hat. Ein Buch, das gegen Ende, ganz nebenbei, daran erinnert, worauf Miteinander und, ja, Frieden beruhen: Offenheit, auch und gerade gegenüber dem Anderen und Fremden. In Verbindung zur Welt zu bleiben. Nachsicht und Demut.
Von einer völlig missglückten Reise nach Mexiko mit ihrem Vater flieht Maya und lebt für einige Zeit mit anderen Jugendlichen auf einem Schrottplatz. Über diese Monate schreibt Angelou:
„Bezeichnend, dass heimatlose Kinder, Treibsand in der Schizophrenie des Krieges, mich in die Gemeinschaft der Menschen aufnehmen mussten. Nachdem ich mit einem weißen Mädchen aus Missouri, einem mexikanischem Mädchen aus Los Angeles und einem schwarzen Mädchen aus Oklahoma leere Flaschen gesammelt und verkauft hatte, konnte ich mich nie wieder völlig außerhalb der Menschheit fühlen. Das Fehlen jeglicher Kritik in unserer zufälligen Gemeinschaft blieb nicht ohne Einfluss auf mich und gab mir für’s ganze Leben ein wenig Toleranz.“
Ich lese das wieder und wieder und denke: Dieses Buch war ein Geburtstagsgeschenk und ist eines für’s ganze Leben.
Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Aus dem amerikanischen Englisch von Harry Oberländer. Suhrkamp Taschenbuch, 321 Seiten, ISBN 978-3-518-46897-5
Gerade gestern habe ich einen Vortrag über das Thema „sexueller Missbrauch“ gehört mit unvorstellbaren Zahlen. So wird mit allem, was dazu gehört mehr Geld umgesetzt (vor allem mit Filmen und Fotos)als mit Öl, Waffen oder Drogen. Deshalb kann man nicht genug auf dieses Thema hinweisen.
Was Du ja auch tust, lieber Wolfgang. Mit „Satans Spielfeld“. Danke, noch einmal, dass es das Buch auch als Hörbuch gibt. Möge es viele Hörer finden.