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Die Kraft des Kontakts: 180 Grad
„Vielleicht sollten wir versuchen, den Anderen nur noch so viel Unterschiedlichkeit nachzusagen, wie sie tatsächlich verdienen. Aber um zu wissen, wie viel das ist, müssten wir sie kennenlernen.“ (Bastian Berbner: 180 Grad)
Vor genau einem Jahr stieß ich beim Weglesen alter Zeitungen auf einen Satz, der mich seitdem in Gestalt des damals ausgeschnittenen Artikels auf meinem Schreibtisch begleitet. An diesem 30. Oktober 2018 – das Datum habe ich rechts oben in der Ecke notiert – las ich eine Kolumne von Ulrike Gastmann in der ZEIT, eine dieser klugen Alltagsbeobachtungen, die leider schon länger nicht mehr erscheinen.
In der Kolumne vom 17. Oktober erzählt Gastmann von einer Fahrt im ICE und freut sich über das harmonische Miteinander. Bis in Erfurt ein Ehepaar zusteigt. Die beiden lesen Zeitung, ereifern sich zuerst über Genderprofessuren, dann über gewalttätige Migranten. Ihr Sermon mündet in dem Satz: „Die müsste man alle an die Wand stellen.“
Worte eines Hundertjährigen
Die Autorin ärgert sich über sich selbst, weil sie sich nicht frühzeitig eingemischt hat. Malt sich das Gespräch aus, das auf diesem Wege vielleicht entstanden wäre. Ein Gespräch ohne den obenstehenden Giftsatz, dafür mit Argumenten. Und ein Gespräch, in dem sie irgendwann einen anderen Satz hätte fallen lassen. Einen Satz, den sie einmal von einem Hundertjährigen gehört hat. Es sind streng genommen zwei Sätze, die da auf meinem Tisch liegen, und sie lauten:
„Übt euch in Milde. Was hart ist, bricht.“
Noch öfter als sonst gingen mir diese Sätze sowie der Kummer der Autorin über die verpasste Chance zum Gespräch in der Zeit durch den Sinn, als ich das Buch „180 Grad – Geschichten gegen den Hass“ von Sebastian Berbner las. Auch diese Lektüre entsprang einer Zeitungsstunde, denn eine der Geschichten war ebenfalls in der ZEIT abgedruckt. Der Titel elektrisierte mich sofort, gleichzeitig runzelte ich die Stirn. Echt jetzt? Die Geschichte trug die Überschrift Wie ein Polizist mit einer Tasse Kaffee einen Islamisten bezwang“
„Wieder in den Wald. Aus Leere wurde Wut. Die dänischen Ärzte hätten seine Mutter retten müssen. Der Schuldirektor war ein Rassist. Die Polizisten hatten ihn gedemütigt. Überall, sagt Jamal, hörte er die Gesellschaft brüllen: Du gehörst nicht zu uns. Dann, sagte er, war da dieser Moment. Er im Wald und in seinem Kopf der Gedanke: Wenn ihr einen Terroristen wollt, dann werde ich euch einen geben.“
Kaffee oder Tee?
Die Geschichte handelt von dem jungen Muslim Jamal, der 2012 eines Tages wie etliche andere muslimische Jugendliche aus dem dänischen Århus nach Syrien verschwindet, verführt von radikalen Versuchungen. Als er zurückkehrt, ruft ihn der Polizist Torleif Link an. Er begegnet Jamal nicht mit Misstrauen und Härte, sondern mit der Frage „Kaffee oder Tee?“. Dann lässt sich Link Jamals Geschichte erzählen. Der sperrt sich anfangs, hält fest an seiner Überzeugung, dass alle Dänen ihn als Feind sehen und somit seine Feinde seien. Link stellt Jamal Erhan Kilic vor, einen dänischen Muslim.
„Ein dänischer Muslim – so etwas konnte es nicht geben, dachte Jamal. Entweder Du bist Muslim oder Du gehörst zum System. Er wollte das Gesicht des Verräters sehen.“
Erhan Kilic wird Jamals Mentor. Sie führen viele Gespräche. Jamal schickt andere Jungen, die mit ihm in Syrien waren, zu Torleif Link. Drei Jahre später wird er Wahlhelfer bei den Parlamentswahlen, schließt er sein Studium ab, heiratet und wird selber Mentor für einen 17-jährigen Muslim. Zu ihm sagt er:
„Bezeichne nicht die ganze Gesellschaft als rassistisch. Du willst ja auch nicht, dass die Menschen sagen, alle Muslime sind gefährlich. Triff keine Entscheidung, wenn Du wütend bist, das führt nur dazu, dass Deine Familie leiden wird.“
Und er sagt:
„Wenn Dein Telefon klingelt, und es ist eine unbekannte Nummer, geh immer ran.“
Der Nazi und der Punk
Dieser Satz könnte ein Untertitel für dieses Buch sein. In dem so viele Menschen, die einander ablehnen oder gar hassen, in Kontakt treten und merken, dass sie sich geirrt haben. Dass der andere gar nicht so schlecht ist. Anders ja, aber nicht schlecht. Oder: Nicht nur. Das ist an manchen Stellen verführerisch schön zu lesen, etwa, wenn in Irland Finbarr O’Brien, der Homosexualität ablehnt, auf den schwulen Chris Lyons trifft und die beiden so etwas wie Freunde werden.
Andere Geschichten kriegt man nur mit Mühe hinunter. Zum Beispiel die von Thomas Wahnig und Sven Krüger. Der Punk und der Nazi lassen sich von einem Wismarer Wirt überreden, gemeinsam mit diesem und einem weiteren Linken und Rechten durch die Wüste von Namibia zu wandern (der Gastronom hat es satt, dass die Gruppen sich bei jedem Hafenfest Straßenschlachten liefern). Wahnig und Krüger sind in einigen Situationen auf den anderen angewiesen. Nach der Reise sagt Wahnig über Krüger:
„Politisch finde ich heute noch, dass Sven völlig falsch liegt. Aber menschlich mag ich ihn leiden.“
Und der Neonazi sagt über den Punk:
„Das Problem ist, wenn Du sie wirklich kennst, kannst Du sie nicht mehr hassen.“
Das Menschliche und das Politische
Ein Problem? Eine gute Nachricht. Mit der freilich die erschreckende Tatsache, dass es viele Sven Krügers gibt, zu viele, nicht aus der Welt ist. Doch all diese Sven Krügers werden ihre Ansichten nicht ändern, wenn man ihnen ausschließlich mit Hass begegnet. Hass schürt weiteren Hass. Die Jamal-Geschichte beendet Berbner mit den Worten:
„Jeder Schlag im amerikanischen Kampf gegen den Terror gleicht einem Stein, der ins Wasser geworfen wird und Wellen in alle Richtungen aussendet, Wellen des Hasses, der Wut, der Rachelust. Immer wächst irgendwo ein neuer Terrorist heran.“
Das klingt so wahr und richtig, und lässt dennoch eine gewisse Rat- und Hilflosigkeit zurück. Denn während ich das schreibe, frage ich mich, ob ich das könnte. Einen Neo-Nazi mögen. Das Menschliche vom Politischen trennen. Denn auch ich spüre genau das, wenn ich die reden höre, die aus der Geschichte nichts gelernt haben. Wenn ich von Anschlägen auf Synagogen oder Unterkünfte für Geflüchtete lese. Den Hitlergruß sehe. Ihre Parolen höre und lese. Ich spüre Wut und ja, auch Hass.
Ich bin ehrlich: Ich glaube, ich könnte es nicht. Aber das ist auch nicht die „Botschaft“ dieses Buches. Dass man Nazis oder Islamisten mögen soll. Was Sebastian Berbners Geschichten anmahnen, ist – so lese ich es – Differenzierung. Genau hinzusehen. Hinzuhören. Das Gespräch zu suchen. Und: Nicht nur die Extremen wahrzunehmen, die Unbelehrbaren. Sondern auch diejenigen, die umdenken. Die den Mut haben, zuzugeben, dass sie falsch lagen.
Im Dunkeln sieht man nicht
Von denen liest und hört man viel zu wenig. Ein lehrreiches und auch beschämendes Kapitel in „180 Grad“ handelt von den Medien und was sie mit ihrer Konzentration auf Missstände, Katastrophen und Abwärtstrends mit unserer Weltwahrnehmung machen. Beschämend deswegen, weil es natürlich nicht reicht, mit dem Finger auf „die Medien“ zu zeigen. Sie geben den schlechten Nachrichten den Vorrang, weil die sich besser verkaufen. Natürlich darf man diese nicht ignorieren, vertuschen oder schönschreiben, das nicht. Doch wenn immerfort nur die dunkle Seite sichtbar gemacht wird, darf man sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen düster denken, verbittern, verhärten. Das braucht es aber. Die im Dunkeln sieht man nicht? Man sieht vor allem selber nicht.
Auch Berbner leugnet im Übrigen nicht, dass die Kraft des Kontakts vielerorts und immer wieder versagt. Er schreibt über die Balkankriege, in denen Freunde zu Feinden wurden. Er erinnert an Ruanda, wo sich Nachbarn gegenseitig abschlachteten, weil die einen Hutu und die anderen Tutsi waren. Er erläutert anhand von Experimenten, was im Gehirn abläuft, wenn völlig Fremde dazu angehalten werden, sich zu Gruppen zusammen zu schließen. Derart „tribalisiert“, so der Fachbegriff, stellt sich der Mensch erschreckend schnell gegen die andere Gruppe. Lehnt sie ab. Will „den Anderen“ schaden.
Und natürlich drehen sich auch nicht alle Protagonisten um „180 Grad“, wie der leider irreführende Titel suggeriert. Sven, der Neonazi, ändert ja nicht seine politischen Ansichten. Sondern nur sein Bild von Thomas Wahnig. Oder besser: Von den Linken. Er muss einsehen, dass sie auch Menschen sind. Hilfsbereite Menschen. Man könnte auch sagen: Er hasst etwas weniger. Und Thomas Wahnig auch. Das ist wenig? Mag sein. Aber auch die Rücknahme von Härte oder eine zaghafte Sympathie kann Wellen schlagen. Wie der Hass.
Harald und Christa
Am nahesten ging mir die Geschichte von Harald und Christa Hermes. In die leerstehende Wohnung über der des Hamburger Ehepaar zieht eines Tages eine serbische Familie . Als Christa das Paar, die drei Kinder und das Baby auf der Hüfte der Frau sieht, sagt sie.
„Harald, ich glaube, wir kriegen Zigeuner.“
Die Hermes protestieren gegen den Einzug dieser und anderer Familien im Viertel. Vergeblich. Eines Tages tropft es durch die Decke über ihrem Balkon und Christa, die nach oben geht, um sich zu beschweren, muss sehen, dass die Familie keine Waschmaschine, ja nicht mal einen Wäscheständer besitzt. Christa entrümpelt und verschenkt. Man lernt einander kennen. „Die Zigeuner“ sind bald Rosi und Robert, Christa „ die Mutti“ und „Oma“ für die Kinder. Als Rosi und Robert samt Kindern abgeholt werden und nach Serbien zurückgeschickt, sagt Christa:
„Was, wenn ich sie nie wiedersehe?“
Und überwindet für den ersten Besuch dort ihre lebenslange Flugangst. Harald sagt drei Jahre später: „Wir können uns das selbst nicht erklären“. Und Christa:
„Dass das Herz so voll Liebe sein kann für fremde Menschen. Das konnten wir uns nicht vorstellen. Das wurde ja nicht verordnet, das ist einfach so passiert.“
Mehr davon
Ich lese das und denke: So etwas passiert bestimmt sehr oft irgendwo. Ich denke auch an das Ehepaar in dem ICE. Und das es sehr viele Menschen gibt, die so denken und reden. Dass aber in vielen bestimmt Milde steckt, nur halt verschüttet. Verhärtet. Dass man, wie Gastmann schreibt, miteinander reden müsste. Statt diese Leute abscheulich zu finden. Schwer. Aber Bücher wie dieses machen ein bisschen Mut. Ich möchte mehr davon, auch in den Medien.
Sebastian Berbner: 180 Grad. Geschichten gegen den Hass. C.H.Beck Paperback, 208 Seiten, ISBN 978-3-406-74244-6