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Wie übersetzt man „Umpfigkeit“? Zum Hieronymus-Tag
BASOREXIE: Der plötzliche Drang, jemanden zu küssen.
ANTIZIPATION bedeutet, sich Freude zu stibitzen. Ein unbekümmertes Verbrauchen von Wonnen, die noch gar nicht gesichert sind. (Tiffany Watt Smith / Birgit Brandau (Übersetzung): Das Buch der Gefühle
Stibitzen. Wie lange habe ich das Wort nicht gelesen. Und „Basorexie“ (sowie Liget, Kaukokaipuu, Ringxiety und viele mehr) kannte ich vor der Lektüre von Tiffany Watt Smiths und Birgit Brandaus (sie schrieb den deutschen Text, dazu gleich mehr) „Buch der Gefühle“ gar nicht. Immer wenn ich es in die Hand nehme, gucke ich zuerst kurz auf den letzten Seiten nach, wie noch mal das unglaubliche Promotionsthema der Autorin lautete. Weil ich es immer wieder vergesse. Und weil ich immer wieder so lachen muss. Die britische Philosophin promovierte, haltet Euch fest, über „das kulturgeschichtliche Phänomen des Zurückschreckens und Zusammenzuckens in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts“. Was es alles gibt.
Bei ihren Recherchen stieß Watt Smith auf viele Gefühle, mit denen sie sich näher befassen wollte. Heraus kam ein Werk voller Geschichten, Gedichte, Liedzeilen, schräger Fakten, Mythen und Glauben, Umkreisungen und Annäherungen um und an Empfindungen, das bei mir seit dem Tag des ersten Blätterns bei den immer greifbaren Lieblingsen steht.
Tief rein in die Wörter
Nicht bei den anderen Wortsammlungen, von denen ich viele besitze. Mario Giordanos „1000 Gefühle, für die es keinen Namens gibt“, „Das Buch der fast vergessenen Wörter“ von Petra Cnyrim, die „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem grimmschen Wörterbuch“ von Peter Graf, Ella Frances Sanders „Lost in Translation – Unübersetzbare Wörter aus der ganzen Welt und natürlich das aberwitzige Werk „Der tiefere Sinn des Labenz – Das Wörterbuch der bisher unbenannten Gegenstände und Gefühle“ von Douglas Adams, John Lloyd und Sven Böttcher. In Deutsch und Englisch! Und viele mehr. Vogelstimmen-, Pflanzenbestimmungs-, Synonymwörter- und klassische Wörterbücher nicht eingerechnet.
Doch das Buch der Gefühle geht weit über die Beschreibung von Wortinhalten hinaus. Indem es ganz tief reingeht in die Wörter, auch in bekannte, die man ohne darüber nachzudenken, ständig benutzt. Tiffany Watt Smith und Birgit Brandau „übersetzen“ auch Glück, Verwundbarkeit, Verschnupftsein und Frust. Man wird, oft ob der Formulierungen und Anekdoten aus vollem Halse lachend, an vergessene Wörter wie „Muffensausen“ erinnert, lernt Komposita kennen wie „Straßenwut“ und „Mehrdeutigkeitsphobie und denkt neu nach über die feinen, wichtigen Unterschiede zwischen Fröhlichkeit und Frohsein, Angst und Furcht, Traurigkeit und Trauer.
Von den Baining lernen
Und man lernt neue Wörter, siehe oben, „Basorexie“. Und „Awumbuk“. Denn ja, für die spezielle Leere, nachdem Gäste das Haus verlassen haben, gibt es in der Sprache der Baining, einem indigenen Volk, das in den Bergen von Papua-Neuguinea lebt, ein eigenes Wort: AWUMBUK. Es bezeichnet folgenden Zustand:
Die Wände hallen wider, und der Raum, der vorher so vollgestopft war, erscheint jetzt unheimlich groß. Oft sind wir in solchen Momenten erleichtert, können aber auch mit einem dumpfen Gefühl zurückbleiben – als ob sich ein Nebel auf uns gelegt hätte und alles sinnlos erscheint (siehe APATHIE).
Die allerlustigste Geschichte in dem Buch, die ich mal vorlas und vor Lachen kaum weiterkam, erklärt den Zustand der Umpfigkeit. Sie handelt von einem schlecht gelaunten Perkin Flump und endet mit folgender Definition:
Umpfigkeit: Ein Gefühl, dass alles „zu viel“ ist und alles irgendwie schiefläuft. Das einzig bekannte Gegenmittel: Lachen.
Oder Bücher wie dieses lesen. Nicht nur wegen des Vergnügens und Immermehrwissens, sondern auch wegen der Dankbarkeit, die man automatisch empfindet. Für Sammlerinnen und Autorinnen wie Tiffany Watt Smith. Und für Birgit Brandau. Die es ermöglicht, dass ich es ohne Englisch-Deutsch-Wörterbuch lesen kann. Die ich bewusst nicht in Klammern setze in diesem Beitrag, sondern gleichberechtig neben die Autorin. Heute ist nämlich Hieronymustag, Übersetzertag, und Ausschlag zu diesem Text gab ein anderes Buch.
Unsichtbarer Übersetzer
Die Idee, diesen 30. September zu nutzen, um anhand eines Beispiels mal wieder den Übersetzerinnen und Übersetzern die Ehre zu erweisen, kam mir bei der Lektüre von Alex Ross’ Musikgeschichte „The Rest is Noise – Das 20. Jahrhundert hören“. Denn man kann wirklich vieles hören beim Lesen, nickt ein „ja, so klingt das“, wenn man das beschrieben Stück kennt, ahnt mindestens, wie ein Akkord, eine Melodie, eine Stille wirkt, wenn Ross eine unbekannte Musik beschreibt.
Da „zerbröseln“ in Mahlers Sinfonien Strukturen, die zuvor „bis in den Himmel errichtet wurden“. In Strauss’ Elektra „prallen Akkorde, die sich in der Salome nur Funken sprühend streiften (…) in langen Attacken aufeinander“. Und über Gershwins berühmtes Stück ‚S Wonderful heißt es über den Refrain, dieser „gewöhnliche Akkord“ sei im Grunde „bloß ein Signal, wie man es beim Schließen von U-Bahn-Türen hören könnte“ und weiter: „Das Wundervolle liegt in der harmonischen Einbettung. Die trägt Terz wird zum Dreh- und Angelpunkt eines anmutigen Reigens von Dur-, Moll-, Dominantsept- und verminderten Septakkorden.“
Drei Beispiele von 3000 möglichen, die mich zweierlei haben denken lassen, immer wieder: Wie schwer es ist, Musik und ihre Wirkung zu beschreiben. Und was für eine ungeheure Anstrengung es kostet, ein solches Buch, in dem Fachsprache und Sprachbilder 700 eng bedruckte Seiten füllen, in eine andere Sprache zu übersetzen.
Denn ich lese ja nicht Alex Ross. Dafür würde mein Englisch nicht reichen.
Hieronymus und Guggolz
Nein, ich lese Ingo Herzke. Das musste ich aber erst recherchieren. Denn in meiner Ausgabe von 2013 fehlt der Name des Übersetzers. Er steht weder – wie üblich – auf dem Schmutztitel. Auch auf der Seite daneben, wo der Leser etwas „zu diesem Buch“ und über Alex Ross erfährt, wird er nicht erwähnt. Und in den bibliographischen Angaben erfahre ich zwar erwartungsgemäß, wer für den Druck und die Umschlaggestaltung zuständig war, nicht aber, von wem der Text des pfundschweren Werkes stammt. Der deutsche Text.
Den offiziell „geadelten“ Hieronymus-Tag gibt es seit 2017. Da wurde der 30. September durch die UN zum „International Translation Day“ erklärt, auch vorher schon nutzten Übersetzer und Dolmetscher überall auf der Welt diesen Tag, um unter dem Namen des Heiligen Hieronymus, Übersetzer des Alten Testaments vom Hebräischen ins Lateinische, auf ihre Bedeutung, ihre Nöte und Forderungen aufmerksam zu machen. Mag sein, dass der Piper-Verlag den Ingo Herzkes Namen in der nächsten Auflage ergänzt hat. Aber dass er in meinem Buch fehlt, in vielen anderen nur schwer zu finden ist und nur wenige Verlage, wie zum Beispiel der Guggolz-Verlag, die Übersetzer mit auf’s Cover nimmt, zeigt, wie sehr das nötig ist. Letzterer hat für seine Wertschätzung 2016 die Übersetzerbarke verliehen bekommen, ein Preis, den der VdÜ (Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke) jedes Jahr an übersetzerfreundliche Verlagsmenschen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verleiht.
Welterschließung, Völkerverständigung
Birgit Brandau, die deutsche Autorin vom „Buch der Gefühle“ wird zwar auf dem Schmutztitel genannt. Hinten, wo ich immer so lachen muss über das Promotionsthema von Tiffany Watt Smith, erfahre ich jedoch nichts über sie. Das ist schade, ist sie doch, siehe oben, auch Autorin.Wissenschaftlerin. Künstlerin. Warum ich dennoch dieses von hunderten anderen übersetzten Büchern für den Beitrag zum Hieronymus-Tag ausgewählt habe? Weil Wörterbücher, und dieses ist nun mal mein Liebstes, trotz der digitalen Recherchemöglichkeiten, immer noch zum Hauptwerkzeug vieler Übersetzerinnen und Übersetzer gehören. Und weil ohne diese wundervollen Sprachschatzkammern ebenso viel Welterschließung und ja, Völkerverständigung verloren ginge wie ohne die Arbeit von Birgit Brandau, Ingo Herzke und all den anderen. Ihnen gilt meine tiefe Bewunderung und Dankbarkeit.
Tiffany Watt Smith: Das Buch der Gefühle. Aus dem Englischen von Birgit Brandau. dtv, 384 Seiten, ISBN 978-3-423-28121-8 (gibt es mittlerweile aber auch als Taschenbuch. Leider nicht annähernd so schön wie das gebundene Buch. Ich sag nur Goldrand!)
Alex Ross: The Rest ist Noise – Das 20. Jahrhundert hören. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Piper, 704 Seiten, ISBN 978-3-492-30189-3