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Tipps von Buchhändlern lesen: Die Manon Lescaut von Turdej
„Mein Nachbar Aslamasjan hingegen war ritterlich. Er schlief sehr ausdrucksstark, lag ausgestreckt auf dem Rücken, eine Hand im Nacken.“
„Die Mädchen waren weniger unterschiedlich. So dachte ich wenigstens, wenn ich sie von der Pritsche aus betrachtete. Sie führten ihr eigenes Leben, voller Vogelleichtsinn.“
So geht das schon los. Voller Vogelleichtsinn! Hatte nie was gehört von dieser „Manon“, nicht von Wsewolod Petrow und nicht gewusst um den Weidle Verlag. Asche auf mein Haupt. Im Ocelot lag dann dieser an Schüchternheit grenzend bescheiden aussehende Band, versehen mit einer Banderole. Ich bat darum, sie dran zu lassen. Weil ich mich neben den sattsam bekannten Gründen, im lokalen Buchhandel zu kaufen, immer daran erinnern wollte, wie dieses kleine Buch in meine Hände kam. Kommen musste. Ich meine: Kann man widerstehen, bei solchen Zeilen? Wie blutleer und zufällig dagegen alle Bestsellerlisten und „Werdasgekaufthatinteressiertesichauchfür“. Wenn es um Ärzte geht, erhört man ja auch lieber den Tipp von vertrauensvoller Seite. Und Bücher nimmt man immerhin mit ins Bett.
Ich gehe immer in Buchläden, bestellt werden nur Rezensionsexemplare. Aber meistens weiß ich, was ich suche. Gut, nehme noch dies und das mit, räusper, aber nach der „Manon Lescaut von Turdej“, dieser atemlosen und zugleich so leise dahinfließenden Liebesgeschichte in einem Spitalzug, der durch die sowjetische Winter- und Kriegslandschaft fährt und auch viel steht, habe ich mir fest vorgenommen, aus jeder Buchhandlung eine Empfehlung der Inhaber mitzunehmen. Zwei weitere liegen schon hier und klauen Nächte. Mehr die Tage.
Wie der Erzähler seine Vera, Verotschka, seine Manon umwirbt und bezirzt, wie sie sich finden und verlieren und wieder finden in dem beengten Getrubel, sich hin- und störrisch geben, sich fetzen und versöhnen mit den anderen im Zug und der ganzen Situation und vor allem versuchen, der ganzen Scheißkriegsrealität ein sattes Maß an Poesie abzutrotzen, das – streckt einen komplett nieder. Lächelnd. Was für eine Kraft in diesen mal kargen, mal kompromisslos leidenschaftlichen Zeilen wummert.
Im Nachwort heißt es: „Um diese hinreißende und bittere Liebesgeschichte (…) mit Vergnügen und Mitgefühl zu lesen, braucht man so gut wie keine Vorkenntnisse in der Geschichte der russischen und der Weltliteratur. So möge der Leser, der diese zauberhaften Seiten gerade hinter sich hat und keine „Entzauberung“ will, an dieser Stelle noch einmal an den Anfang der Novelle zurückkehren und sie noch einmal lesen. Das würde mich freuen.“
Das Nachwort lohnt sich, weil der Autor, Oleg Jurjew, ja auch total verzaubert ist. Aber auch ganz viel weiß. Danach kann man trotzdem sehr gut wieder von vorne anfangen. Auf Seite 8 sagt der Erzähler:
„Mal fuhr der Zug mal stand er lange. Überall schneebedeckte Felder und Wälder, zerstörte Bahnhöfe. Oft hörte ich etwas explodieren, manchmal in der Ferne, manchmal direkt neben uns. Die Zeit war irgendwie vom Weg abgekommen: Sie verband nicht das Vergangene mit dem Zukünftigen, sondern lenkte mich zur Seite.“
Und was über die verrückt schöne Liebe alles darin steht, schreib ich hier nicht hin. Das wäre wie kaputtmachen. Mann muss es lesen. Laut lesen. Vorlesen.