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Lesen Gegen das Vergessen: Kinder mit Stern
Klaartje nickt. „Und jetzt ist Frieden, ja, Mama? Und es wird nie mehr Krieg geben!“ Mama gibt ihr einen Kuss: „Das wollen wir hoffen.“
„Those who cannot remember the past are condemned to repeat it / Wenn man die Vergangenheit vergisst, ist man verdammt, sie zu wiederholen.“ (George Santayana)
Am 25. Mai sorgte der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung für Aufruhr. Felix Klein warnte die Juden in Deutschland davor, „jederzeit überall eine Kippa zu tragen“. Als Grund nannte er die „zunehmende gesellschaftliche Enthemmung und Verrohung“. Diese sei ein fataler Nährboden für Antisemitismus. Klein wurde für seine Äußerung scharf kritisiert. Die Politik kapituliere vor dem Judenhass, hieß es von vielen Seiten.
Am 31. Mai las ich, dass wieder Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee geschändet wurden. Sieben Grabsteine wurden umgeworfen und fünf Familiengräber beschädigt. Vom selben Tag stammt die Nachricht, dass in Berlin eine jüdische Rentnerin anonyme Post erhalten habe. In dem Umschlag befand sich eine „ascheähnliche Substanz“.
Zerschnitte Gesichter
Am 21. Mai wurden in Wien Bilder des Mannheimer Fotografen Luigi Toscano mit Hakenkreuzen beschmiert. Die Installation „Gegen das Vergessen“ zeigt die Gesichter von Holocaust-Überlebenden. Luigi – ich hatte 2016 das große Glück, ihn kennenzulernen, mit ihm ein fünfstündiges Gespräch zu führen und ein Porträt über ihn zu schreiben – reist seit Jahren um die Welt, spricht mit den Überlebenden und fotografiert sie. Auch seine Bilder waren mittlerweile rund um die Erde zu sehen. Immer im öffentlichen Raum. So will er das. Nur so, sagt er, müssen alle der Vergangenheit ins Gesicht sehen. Damit sie sich nicht wiederhole. Das Eingangszitat des Philosophen von George Santayana hat er von Susan Gernyak-Spatz, die Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und einen Todesmarsch nach Ravensbrück überlebte. Geboren wurde Susan 1922 in Wien.
Am 27. Mai gab es dort den 2. Anschlag binnen weniger Tage auf die Ausstellung. Was diesmal geschah, kann ich kaum aufschreiben, weil mir erst einmal so kalt wird und die Hände zittern, wenn ich die Bilder vor mir sehe. Jemand hat sie zerschnitten. Wo vorher die Augen der Menschen waren, klafften Löcher. Das ist kein Angriff auf Kunst. Das ist ein Anschlag auf Menschen, die mehr Leid und Gewalt ausgehalten haben, als wir uns vorstellen können. Und jetzt ihr Gesicht hinhalten. Damit wir nicht vergessen, wir nicht, und auch die kommenden Generationen nicht.
Tränen über Sterne
Dass die Kälte nicht anhält und ich mit ruhiger Hand weiterschreiben kann, liegt an all dem, was nach den Anschlägen geschah. Doch dazu später. Das Buch „Gegen das Vergessen“ liegt seit einigen Tagen wieder auf dem Tisch. Und daneben ein Kinderbuch, das ich für die Berliner Zeitung besprechen werde. Es heißt „Kinder mit Stern“, ich las es gar nicht so weit vor den oben genannten Ereignissen.
Es ist ein Kleidungsstück aus rotem Stoff. Mama faltet es für sie auseinander. „Schau“, sagt sie, „das ist ein Bolero. Den kannst Du über allen Kleidern und Blusen tragen.“ An das kurze Jäckchen ist ein Stern geheftet. Der Stern, endlich. Man bekommt ihn erst, wenn man sechs Jahre alt ist. Ab jetzt gehört Rosa zu den wirklich großen Kindern. „Wie schön!“ Rosa springt auf und schlingt die Arme um Mamas Hals. „Jetzt hab ich einen eigenen Stern!“ Als Rosa sich wieder hinsetzt, sieht sie, dass Mama Tränen in den Augen hat.
Martine Letterie hat für die Geschichten von Bennie, Klaartje, Rosa, Jules, Leo und Ruth mit Überlebenden gesprochen, die als Kinder im Lager Westerbork waren. Die feine, klare, nie nach Tränen haschende Übersetzung ins Deutsche verdanken wir Andrea Kluitmann, die stillen Illustrationen Julie Völk. Tränen kamen mir dennoch ein ums andere Mal, vor allem da, wo die Kinder einfach Kinder sind. Siehe oben. Oder als Bennie ein Geschenk bekommt. Da wohnen alle schon im Lager. Bennie erwartet kein Geschenk, denn „in Westerbork gibt es keine Geschäfte“. Er freut sich trotzdem auf den Festtag: „Es kribbelt ihn überall am Körper. Sein Geburtstag, wie spannend! Die ganze Zeit hat er versucht, nicht daran zu denken.“ Das Kapitel endet so:
Doch ein Geschenk! Ungeduldig reißt Bennie das Papier auf. Was ist denn das für ein seltsames Ding? „Das ist eine Staubbrille“, erklärt Papa. „Wenn Du die draußen aufsetzt, bekommst Du keinen Sand mehr in die Augen.“ Bennie schaut sie noch einmal genauer an und setzt sie auf. „Sieh nur!“ Mama zieht einen kleinen Spiegel aus ihrer Tasche. Bennie betrachtet sich. „So ein schönes Geschenk habe ich noch nie bekommen!“ Er beugt sich über den Bettrand und ruft: „Sammy, sieh Dir das nur an! Jetzt bin ich ein echter Pilot!“
Staub und Schnee
Ein paar Seiten später sieht man Klaartje sehr klein zwischen den Baracken stehen. Sie sind verschneit, Staub ist jetzt das kleinere Problem. Schlamm bedeckt Klaartjes Schuhe und es ist kalt. Sie weint, weil ihre Freundin Rosa abgeholt wurde. Mit vielen anderen in einem Zug. Auch Ruth musste zusehen, wie Sara in einen solchen Zug steigt.
Rosa und Sara haben die Befreiung des Lagers nicht mehr erlebt. Über 18.000 andere Kinder und Babys auch nicht, die über Westerbork abtransportiert wurden. Das steht im Nachwort. Das Buch selbst endet hell, mit dem Frieden. Deswegen, und weil so viel Alltag, Familienleben, Freundschaften, Spiel und Jux eine Rolle spielen, kann man es auch mit Kindern lesen, die für Anne Franks Tagebuch, das rosa Kaninchen und andere Werke noch zu jung sind.
Der Verlag bewirbt „Kinder mit Stern“ mit den Worten: „Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen.“ Ich denke: Jedes Buch gegen das Vergessen ist wichtig. Wie wichtig, zeigen die Ereignisse der letzten Mai-Tage, die für sich genommen schon unfassbar sind. Und es sind nur drei Beispiele von unzähligen im Laufe eines Jahres. So wichtig die Debatte um Felix Kleins Kippa-Warnung ist: Müsste nicht ein viel lauterer Aufschrei aus allen, allen Kehlen kommen, weil er eine solche Warnung überhaupt für notwendig hält?
„Kinder mit Stern“ ist ein besonderes, gutes, ja, schönes Buch gegen das Vergessen. Als ich es jetzt zum zweiten Mal las, dachte ich: Einem Kind den Holocaust zu erklären, ist schon kaum möglich. Unmöglich erklären kann man, dass immer noch Menschen Gräber schänden, Gesichter zerfetzen und man wegen seines Glaubens in Angst leben muss. Dass sie vergessen, oder schlimmer noch, die Vergangenheit wiederholen wollen. Solche Gedanken machen mich in einer Weise ohnmächtig, die ich gar nicht beschreiben kann.
Wie es weiterging und gehen muss
Aber wir sind nicht ohnmächtig, und weil ich will, dass dieser Text mit Mut, Entschlossenheit und all denen endet, die täglich kämpfen gegen das Vergessen, hier ein kleiner Ausschnitt dessen, was nach der Zerstörung der Bilder in Wien geschah. Es kann nur ein Ausschnitt bleiben, denn das Ausmaß an Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und der Sorte Menschlichkeit, die nur das gemeinsame Entsetzen hervorbringt, welches Luigi, seinen Leuten und den Überlebenden entgegenkam, würde ein Buch füllen. Vielleicht schreibt Luigi es ja. Viele Bilder und Links findet man auf Luigis Facebook-Seite.
Österreichs Bundespräsident Alexander van der Bellen fand vor Ort und in den sozialen Medien ergreifende, klare Worte und legte Blumen nieder. Viele Politiker äußerten Entsetzen und Mitgefühl. Tausende andere Menschen legten ebenfalls Blumen nieder, halfen dabei, die Bilder zu nähen und hielten bis zum letzten Tag der Ausstellung Nacht- und Mahnwachen. Angefangen damit hatten muslimische Jugendliche, die das nächtliche Fastenbrechen an den Ort des Geschehens verlegten. Leute kochten Suppe und Tee für die Wachenden. Einige der zerstörten Bilder wurden ins National Museum Österreich aufgenommen und unter Denkmalschutz gestellt. „Wir haben Geschichte geschrieben“ schrieb Luigi dazu. Der Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Wir dürfen die Geschichte, die vergangene und die kommende, nicht den falschen überlassen. Wir alle schreiben sie mit.
Die Ereignisse in Wien und Bücher wie „Kinder mit Stern“ geben Grund zur Hoffnung, dass nie wieder Menschen einen Stern tragen müssen, der sie zu minderem Leben erklärt. Sondern das der Stern, ob Davidsstern oder Weihnachtsstern oder einfach die Millionen am Himmel, für immer das sein darf, was er ist: Ein Symbol der Hoffnung und des Glaubens. An wen oder was auch immer. Die katholische und muslimische Jugend von Wien und alle die gemeinsam unter dem Nachthimmel von Wien das Fastenbrechen gefeiert haben, beweisen:
Nicht zu vergessen heißt auch, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Martine Letterie, Julie Völk (Illustrationen) und Andrea Kluitmann (Übersetzung aus dem Niederländischen): Kinder mit Stern. Carlsen 2019, 128 Seiten, ISBN: 978-3-551-55762-9. Ab 10 Jahre.
Luigi Toscano: Gegen das Vergessen. Edition Panorama 2015, 192 Seiten, ISBN: 978-3-89823-518-1
Ich hoffe, dass dieser Text eine grosse Reichweite erfährt.Gerade in einer Zeit, in der extrem Rechte wachsenden Zuspruch erfahren, kann man nicht laut genug gegen das Vergessen reden, schreiben und Handeln. Danke für diesen Text
Danke, Wolfgang. Und als ich gerade Deinen Namen las, fiel mir auf: wieder habe ich die Altersangabe vergessen. Das hole ich aber augenblicklich nach.
Liebe Barbara, ich habe tränen in den Augen, ich versuche in diesem ganzen Trubel zu ruhe zu kommen, ich versuche zu begreifen, ich versuche zu atmen, ich versuche zu schreiben…
Luigi
Lieber Luigi, es wird sicher noch eine Weile dauern, bis Du das alles verarbeitet hast. Und die nächsten Ereignisse werden sicher nicht lange auf sich warten lassen. Atmen und schreiben ist gut. Und schwimmen, immer weiter schwimmen. Aber das weißt Du ja selber am besten. Grüße mit Kraft und Wärme, Barbara