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Fernes zusammenlesen: Perlen der Friedenauer Presse
„Vielleicht gibt es aber gar keine Wunder, und dass wir ein Wunder erwarten, zeugt lediglich von der Schwäche unserer Seele und der Unfähigkeit, etwas zu begreifen, das bedeutsamer als ein Wunder ist.“ (Wsewolod Petrow, Wunder)
„Warum sich die Hoffnung versagen, glücklich zu sein, und zwar auf die lebhafteste Art?“ (Émilie du Châtelet, Rede vom Glück)
Zugegeben: Ein seltsames Paar. Zwei, die sich im Leben nicht hätten treffen können. Rund 200 Jahre und tausende Kilometer trennen Émilie du Châtelet (geboren 1704 in Paris, gestorben 1749 in Lunéville) und Wsewolod Petrow (geboren 1912 in Sankt Petersburg, gestorben 1978 in der selben Stadt, doch umbenannt von der Weltgeschichte in „Leningrad“) und in einem Bücherregal kämen sie nur zueinander, sortierte man nach Verlagen. Und wer macht das schon.
Täter und Komplizen
Und doch ist in diesem Fall der Verlag Haupttäter beim Zustandekommen dieser gewagten Lektüre-Liaison. Komplizen, wie soll es anders sein, sind Buchhandlungen. Diese wunderbaren Orte unerwarteten Glücks, um gleich auf das zweite verbindende Element hinzuweisen: Die Titel der beiden Bändchen, an denen man nicht vorbeikommt, wenn man dazu neigt, dem Magnetismus des Schönen widerstandslos zu folgen, wo immer er zieht.
Wsewolod Petrows Erzählungen, die unter dem Titel der einen, anfangs zitierten, dieses Jahr erschienen sind, haben einen Vorgänger. Bei einer Bummelei durch die Buchhandlung Ocelot in Berlin Mitte letztes Jahr lockte mich die handschriftliche Empfehlung der Inhaberin Maria Christina Piwowarski. Auf der Banderole um das mir unbekannte Buch „Die Manon Lescaut von Turdjei“ des mir damals unbekannten Autors Wsewolod Petrow, erschienen im mir bis dahin unbekannten Weidle-Verlag, stand: „In glühender Liebe entbrannt zu diesem Verlag, in dieses Buch! Lest es laut! Lest es Euch vor!“ Kann man das liegenlassen? Zumal es auch noch optisch so aufregend daher kommt, bescheiden und verführerisch zugleich?
Eben. Ich nahm es mit. Ich las. Ich las es vor, auch mir selbst, wenn niemand zuhören konnte. Ich schrieb einen kleinen Text über diesen Schatz von Novelle, der 60 Jahre brauchte, um in Russland gehoben zu werden (2006) und nochmal sieben, bis Daniel Jurjew es so fantastisch ins Deutsche übersetzte und herausgab. Man kann ihm gar nicht genug danken.
Kleines und Feines
Denn auf dieses Wunder folgten die „Wunder“. Sie standen in einer weiteren Buchhandlung, die ich hübscher Regelmäßigkeit mit drei bis vier Büchern mehr verlasse, als ich mir zuvor erlaubt habe. Bei Uslar&Rai gibt es ein Regal mit dem Titel „Lyrik und kleines Feines“, eine famose Einrichtung, ist dort doch Platz für alles, was sich den üblichen Kategorien entzieht. Da stand es, ein ausgepacktes Ansichtsexemplar und daneben lagen weitere. Nicht in Plastik eingeschweißt, nein. Gefaltet in Pergamentpapier, zusammen gehalten lediglich von einem kleinen Aufkleber mit der Signatur der Friedenauer Presse. Wie Geschenke sehen Bücher der Reihe „Wolffs Broschur“ aus, die Sorte, die man gar nicht zu öffnen wagt, weil die Verpackung so schön ist. Weil der Verschluss wie ein Siegel aussieht. Das zu brechen hieße, das feine Papier zu zerstören. Wenn man es ganz vorsichtig löst, bleibt aber alles erhalten.
So kam die Friedenauer Presse nach langer Zeit sträflicher Ignoranz meinerseits wieder ins Haus – früher kam ich an keinem dieser Ständer vorbei, die in gut sortierten Buchhandlungen gut sichtbar stehen. In denen sich ebenfalls zeitlich, örtlich, inhaltlich, stilistisch sehr Entfernte Autoren begegnen, in großformatigen, schmalen Heften… Aber ich schweife ab. Meine Aufmerksamkeit war geweckt, und so sprang mich die Email natürlich geradezu an, in welcher der Verlag für die „Rede vom Glück“ warb.
Nichtsuchen und Trotzdemfinden
Rezensionsexemplare bekommen ist ja immer ein bisschen wie Weihnachten, aber dieses Mal fielen Weihnachten und Geburtstag zusammen, denn auch Madame du Châtelet kam im Geschenkgewand. Landete irgendwie neben Petrow. Und beide zusammen hier, auf „Laufend lesen“. Worum es in diesem Beitrag bisher kaum ging, doch ist nicht das Suchen und Finden – oder noch spannender: das Nichtsuchen und Trotzdemfinden – von Büchern köstlicher Bestandteil des Lesens? Unbedingt finde ich, mit allem, was damit einhergeht. Den Blick über die Regale wandern zu lassen. Zu spüren, wie er sich festkrallt. Gebannt, weil ein Cover, ein Titel, ein vertrauter Name oder ein gänzlich fremder ihm zublinzeln. Ein Buch, das einem noch nicht gehört, aufzuschlagen und darin zu blättern. Es wieder weg zu legen, obwohl man schon weiß, tief drinnen, dass man es ja doch kaufen wird. Die Auslagen zu studieren: Welche Bücher finden die Inhaber wichtig? Und natürlich das Gespräch, mit ihnen, mit Verkäufern, mit anderen Kunden. Es ergibt sich immer, wenn man will.
Schinken und Wirliwirli: „Wunder“
„Der Künstler antwortete nicht und dachte, während er sich wegdrehte: Auch wenn das seltsam ist, aber vielleicht ist das wirklich so?“
Apropos Sprechen, und damit wenigstens kurz zum Inhalt der beiden „Geschenke“, der unterschiedlicher nicht sein könnte. Schon in der „Manon“ haben mich die geschliffenen, doch nie gestelzten und immer ein bisschen schrägen Dialoge fasziniert. In den Geschichten des „Wunder“-Bandes treibt Petrow es nun so bunt, dass man schwindelfrei sein muss – und offen für’s komplett absurde. Einmal drin, denkt man jedoch bald: Ist die Welt da draußen nicht ebenso bizarr, wenn nicht noch mehr? Und plötzlich erscheint es einem völlig normal, dass ein Künstler einen Schinken kaufen will, nicht um ihn zu essen, sondern um ihn zu malen und alle anderen in der Schlange auch. Dass ein kleiner alter Mann in einen Familienabend platzt und „Wirliwirli“ sagt. Woraufhin alle das sagen und plötzlich sehr fröhlich sind. Und dass Begegnungen zwischen Männern und Frauen auch so klingen können:
„Igunow nahm den Hut ab und hielt den Kopf in den leichten Regen. Dabei vergaß er völlig, wozu er da war, und dachte an entschieden nichts. Dann drehte er sich um und sah, dass hinter ihm eine Schönheit stand. (…)
>Entschuldigen Sie, sagte Igunow, sind Sie die Schönheit?<
>Nein<, sagte die Frau. >Ich bin keine Schönheit. Ich bin nicht außerordentlich schön.<
>Stimmt<, sagte Igunow. >Verzeihen Sie mir, dass ich so gefragt habe.<„
Kluge Knallsätze
Wie ich von diesen Miniaturen, die sich lesen, als hätten Danijl Charms und Samuel Beckett zusammen gekifft und anschließend getextet, elegant zu Madame du Châtelets Überlegungen zum Glück überleiten soll, ist mir schleierhaft. Eine Gemeinsamkeit besteht allenfalls in der Kunst, wasserklare Knall-Sätze zu formulieren, die beide meisterhaft verstehen. Etliche in der mal hymnischen, mal spröde-spöttischen, stets klugen „Rede“ habe ich gedanklich mit „Boing!“ und „Zack!“ versehen.
Aber man sollte Vorurteile nicht mit den Regeln der Schicklichkeit verwechseln. Vorurteile enthalten keinerlei Wahrheit. Sie können nur mißgestalteten Seelen nützen. (…) Ihnen habe ich nichts zu sagen. Sie stehen außerhalb.“
Solche meine ich. Oder:
„Nichts ist so erniedrigend wie die Schritte, die man unternimmt, um ein kaltes oder unbeständiges Herz wiederzugewinnen.“
Dass die Madame, die während ihrer geistigen und körperlichen Verbindung mit Voltaire (mit ihm zusammen schrieb du Châtelet, die nicht nur Philosophin, sondern auch Physikerin, Mathematikerin und Übersetzerin war, „Elemente der Philosophie Newtons“) so glücklich war, nur zwei Jahre später zunächst bittende und bald bittere Briefe an einen neuen Liebhaber schrieb, versetzt dem Leser einen fiesen Stich. Diese Briefe folgen in dieser Ausgabe gleich auf die „Rede“. Theorie und Praxis, seufzt man. Auch damals schon, und auch den Klügsten und Hellsichtigsten widerfährt’s. Das Schicksal war noch nie pingelig.
Eine Verbeugung
Dass ich so wenig zum Inhalt geschrieben habe und so viel über die äußere Gestalt der Bücher und ihren Weg zu mir, liegt nicht darin, dass es zu den Texten nicht noch unendlich viel zu sagen gäbe. Diese Nicht-Rezension, die ganz anders geplant war, entsprang dem Bedürfnis, mich wieder mal zu verbeugen. Vor kleinen Verlagen, die in auf diesem irren Markt und zwischen den Riesen unaufhörlich mit Phantasie, Gestaltungswillen, Geduld und Liebe zur Sache uns Leserinnen und Bücherabhängigen solche Geschenke machen. Und vor den Buchhändlerinnen und Inhabern kleiner Geschäfte, die sich mit der Auslage derartiger Perlen von den großen Ketten und Kraken wie Amazon so mutig wie folgerichtig abgrenzen. Jedes Sprechen und Schreiben über diese Akteure muss eigentlich zwangläufig zu einer „Rede über das Glück“ geraten. Und einer über ein andauerndes Wunder.
Wsewolod Petrow: Wunder. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Friedenauer Presse, 120 Seiten, fadengeheftete Broschur, ISBN 978-3-932109-88-1
Madamedu Châtelet: Rede vom Glück. Aus dem Französischen von Iris Roebling, 104 Seiten 978-3-932109-12-6
Einer der grossen kleinen Verlage. Danke dafür, dass Du auf solche Highlights hinweist. Bibliodiversität statt Amazonisierung. Kauft Eure Bücher (und Hörbücher) im Buchhandel kann man immer wieder neu propagieren!
„Bibliodiversität“ – sehr schön. Danke Dir für das Wort. Ja, dafür wollen wir kämpfen! Seitenweise Grüße.