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Wenn ein Haus lebt: Karosh Thahas „Krabbenwanderung“
„Sie hebt den Kopf und schaut mich an, wie keine Tochter auf der Welt angeschaut werden will.“
Und jetzt also Sanaa. Schon nach wenigen Seiten von Karosh Tahas „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ wusste ich, dass auch diese junge Frau neben etlichen anderen, die mir im Laufe des letzten Lektüre-Jahres begegnet sind, für immer im Leseherzen behalten werde. Neben „Arminuta“, der namenlosen „Zurückgekehrten“ aus dem gleichnamigen Roman von Donatella di Pietrantonio. Neben der unglaublichen Jessica in Jane Gardams „Weit weg von Verona“. Zusammen mit Bri und Starr, den jungen Heldinnen aus Angie Thomas’ Romanen „On the Come Up“ und „The hate you give“.
Mit der unvergesslichen Biene, die Robert Seethaler mit einem Altrocker in „Die Biene und der Kurt“ durch die Lande reisen lässt, und Pauli, die mit ihrer Schwester Karine in Karoline Menges Erstling (so viele Debüts! Das fällt mir jetzt erst auf) auf so erstaunlich atmosphärische und berührende Weise tut, was der Titel verspricht: „Warten auf Schnee“. Und dann ist da natürlich Turtle, die eigentlich Julia heißt, aus Gabriel Tallents erschütterndem Debüt „Mein Ein und Alles“. Man könnte diese spontane Reihe lange fortsetzen, doch jetzt: Sanaa.
Sie ist 22, wurde wie die Autorin im Irak geboren und lebt mit ihrer Mutter Asjia, ihrem Vater Nasser und der 15-jährigen Schwester Helin im Hochhausviertel einer ungenannten deutschen Stadt mit vielen anderen kurdischen Familien. Was in Saanas Familie vor allem wohnt, ist das Schweigen. Selten habe ich es so gehört, gespürt wie in diesem Buch:
„Am nächsten Morgen wache ich ohne Decke auf, mein Nacken ist steif, der Rücken hart, weil die Couch durchgesessen ist. Nasser schließt Wohnungstür auf, sieht mich, fragt, warum ich nicht in meinem Zimmer schlafe. Das Gleiche könnte ich ihn fragen, aber ich tue es nicht. Wir lassen einander in Ruhe, und das ist falsch.“
An anderer Stelle heißt es:
„Nasser und ich schauen im Fernsehen die Nachrichten, und ich würde ihn gerne fragen, ob er das Naturspektakel in der Küche bemerkt habe. Doch statt Gedanken teilen wir einen Aschenbecher.“
Geschwiegen wird über die Heimat und das Heimweh. Die Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft. Über Bedürfnisse, Schmerzen, Wünsche. Und von all dem wogt und tobt so viel in diesen vier Köpfen und Leibern, dass es einem trotz Tahas mal zarter, mal schroffer Sprache richtig überwältigt.
Trauer und Rebellion
Asjia, die Mutter, verpuppt sich am Tage und weint in der Nacht. Nasser kratzt sich die Arme auf, streift durch das Viertel und flüchtet wohl zu einer Geliebten. Helin rebelliert und wütet sich durch die Pubertät. Wie sehr sie Eltern bräuchte, wie verletzlich sie hinter der kaltschnäuzigen Fassade ist, erkennt der Leser immer wieder durch die Augen von Sanaa und hinter den feinen Formulierungen der Autorin. Sanaa fühlt sich verpflichtet, die Familie zusammenzuhalten. Die Mutter zu halten. Der Schwester Halt zu geben. Und will doch oft nur fliehen. Sie tut es auch, in die Arme von Männern, obwohl sie nur einen liebt. Doch eine Zukunft mit Adnan scheint unerreichbar. Dafür müsste sie das Hochhaus verlassen. Die Familie.
„Asija verabschiedete mich mit einem unvergänglichen Kuss auf die Stirn, unerfahren in der Erwiderung mütterlicher Liebe flüchtete ich in den Aufzug. Diebische Freude überfällt mich im Auto, weil ich noch die weichen Lippen mit hauchwarmem Speichel auf der Stirn spüre. Diesen Moment werde ich als Erinnerung bewahren.“
Das Ausmaß von Sanaas Einsamkeit und wie sehr sie sich unter Schmerzen darin eingerichtet hat, offenbart sich, als Asija „erwacht“. Auslöser ist ein Stapel leerer Teller, die Sanaa findet. Sie gehören diversen Nachbarinnen, die darauf Speisen brachten, wie es die ungeschriebenen Gesetze des Hochhauses und der kurdischen Gastfreundschaft vorsehen. In denen steht auch, dass der Beschenkte sie gefüllt zurückbringt. Doch Tante Khalida (eine der rätselhaftesten Figuren des Romans. Ist sie wirklich so missgünstig und böse? Oder letztlich auch nur einsam und nicht heimisch geworden in der Fremde?) hat die Teller versteckt.
Erwachen und neue Angst
Sanaa tut instinktiv das einzig richtige: Sie bewegt die Mutter dazu, zu backen. Zu kochen. Einzukaufen. Raus zu gehen. Geradezu ungläubig beobachtet die Tochter diese Entpuppung. Ich las dieses Erwachen, das Sanaa, Helin, die Tanten, die Nachbarn mit Staunen und Angst erfüllt – denn wie lange wird es anhalten? – mit Freudentränen in den Augen, mit Gänsehaut, und mit tausend Gerüchen in der Nase. So sinnlich werden die Speisen und Zutaten beschrieben, so nah ist man dabei, in dieser Welt, die um die Ecke sein könnte, und doch so fremd ist.
Zugleich wird Tahas Sprache wird, so kam es mir jedenfalls vor, tastender, vorsichtiger zum Ende hin. Als wolle sie den zarten Neuanfang, die Chance, die diese Familie unerwarteter Weise bekommt, nicht durch zu klare Worte in Gefahr bringen. Das Pflänzchen nicht zertreten.
Das Haus
Apropos Pflänzchen. Im Hochhaus gibt es davon nicht viele. Dennoch erlebt man es wie ein lebendiges Wesen, einen weiteren, eigenständigen Protagonisten des Romans. Taha lässt es atmen, sich wehren und resignieren, leiden und hoffen wie die Körper in den Sex-Szenen, wie die Seelen im Streit, wie Sanaa und ihre Kumpels bei der Suche nach dem Hochzeitsvideo der Eltern:
„Ich schaue auf das Hochhaus, das mit dreihundertachtundsechzig Augen zurückschaut. Die Anzahl der Augen entspricht nur zu einem Drittel der Wahrheit, trotzdem halte ich den Blicken stand, ziehe genüsslich an meiner Zigarette und erforsche das Hochhaus wie ein Wimmelbild: Auf den Balkonen hängt regungslos verwaschene Kleidung an den Wäscheständern, weil selbst der Wind das Viertel nicht besucht. Auf wenigen Balkonen stehen Blumentöpfe ohne richtige Blumen, nur mit Löwenzahn, der aus Versehen dort blüht.“
Einige Momente später fällt Sanaas Blick auf den Balkon von Tante Khalida, sie schaut „auf die Rumpelkammer, die mal ein Balkon war:
„Da lagern weiße Plastikstühle für den Fall, dass sich dreißig Gäste auf einmal ankündigen, diverse Besenstiele stehen in einer Ecke mit einem traurigen Wischmopp in ihrer Mitte. Zwei Riesenantennen versperren die Sicht auf die Fenster. Das Hochhaus ist vollgestopft, da ist nicht einmal Platz für einen Liter Sonnenschein. Ich stelle mir vor, wie das Haus sich alle zehn Jahre einmal kräftig schüttelt, um die gehortete Last seiner Bewohner abzuwerfen und einen Schritt vorwärts zu machen. Aber seit zwei Jahren hat das Hochhaus verschlafen, sich zu entrümpeln.
Vielleicht ist es auch tot.“
Kurz: Dank der immer fein dosierten Sprachwucht von Karosh Taha sieht man dieses Haus nicht nur vor sich, riecht es und hört es. Man spürtes regelrecht, seine Enge. Die Ferne, die darin wohnt. All die Leben, nicht totzukriegenden Hoffnungen und Geschichten.
Vom Bewahren
„Ich glaube, Vergessen ist ein schöneres Geschenk als Erinnern“ heißt es an einer Stelle in diesem Buch, das zugleich der Gegenbeweis ist. Denn: Unabhängig davon, wie vieles darin tatsächlich Erlebtes schildert und welcher Anteil von Sanaas Geschichte Fiktion ist: In alle Beschreibung fließt doch unvergessene, bewahrte Lebenswelt und -erfahrung ein. Ersetzt man also „Erinnern“ durch „Bewahren“, so ist Vergessen(-wollen) und Verdrängen vielleicht manchmal bequemer, Bewahren aber ein Geschenk an alle, die daran teilhaben dürfen. Zum Beispiel die Leser. Die all diese Erzählerinnen nicht mehr vergessen werden: Biene. Turtle. Bri, Starr, Pauli, Jessica, Arminuta. All die anderen. Und jetzt Sanaa. Von der auch das Zitat stammt, das der „Krabbenwanderung“ voran gestellt ist:
„Diese Geschichte beruht auf tatsächlichen Begebenheiten in meiner Erinnerung.“
Wie gut, dass sie sich dagegen entschieden hat, sie zu vergessen. Oder es nicht konnte. Und dass Karosh Taha sie aufgeschrieben hat. Das sah im übrigen auch die Jury des Förderpreises NRW so, die den Roman 2018 ausgezeichnet hat. Für zwei weitere Preise war er nominiert. Jetzt gibt es ihn als Taschenbuch, ergänzt um einen klugen Essay der Autorin, der die Rolle des Hochhauses genauer in den Blick nimmt. Er heißt: „Der Raum im Roman ist ein Miterzähler“. In der Tat.
Karosh Taha: Beschreibung einer Krabbenwanderung. DuMont 2018, 256 Seiten. ISBN: 978-3-8321-6481-2