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Ein Jahrzehnt lesen und begreifen: Wolfszeit
„Wer konnte, tanzte.“
„Denn ungeachtet ihrer Einmaligkeit kann eine Epoche – auf ihre Struktur hin befragt – Momente der Dauer enthalten, die noch in unsere Gegenwart hineinreichen.“ (Reinhart Koselleck, Kritik und Krise)
Sachbücher, zumal sehr dicke, haben es bei mir nicht ganz leicht. Nicht, weil ich nicht begierig wäre auf neues Wissen, andere Länder und Kulturen, ferne Disziplinen. Nicht wegen fehlender Neugier hinsichtlich großer Zusammenhänge, vergangener Zeiten oder der nahen Zukunft, auf die Gedanken und deren Zusammenschlüsse anderer Menschen. Ich finde nur all dies oft in Romanen und Geschichten, Epen und Stücken, Essays und Gedichten genauso – nur viel direkter, erlebbarer, sinnlicher erzählt. Und deswegen werden Sachbücher, so beherzt und freudig ich sie anfange, oft charmant weggedrängelt von anderen Büchern. Die halb gelesenen füllen Regale.
Ausnahmen bilden solche, die dasselbe schaffen wie ihre erzählerischen Geschwister: Die einen Sog entfalten, die einen nicht mehr loslassen, die sinnlich erfahrbar machen, was man da gerade liest. In Sätzen, die man nicht mehr vergisst. Wegen denen man Pflichten vernachlässigt, zu wenig schläft und das Nudelwasser überkochen lässt. Das waren zuletzt – ganz spontan, sicher gab es noch einige Ausnahmen mehr – Elisabeth von Thaddens „Berührungslose Gesellschaft“, Noah Hariris „Kurze Geschichte der Menschheit“ und: Harald Jähners „Wolfszeit“.
Vor und nach Leipzig
Ich wollte eigentlich schon vor Leipzig darüber schreiben. Um meine Hoffnung, er möge den Preis der Buchmesse erhalten (die Hoffnung war eine Ahnung, eine Art Fast-Gewissheit), darin unterzubringen. Das habe ich nicht geschafft, und nun schreibe ich über den Preisträger. Hab mich gefreut wie verrückt, als ich mitten im Messetrubel davon erfuhr.
„Gut machten sich in Trümmern spielende Kinder, Liebespaare und natürlich Mode. Während die einen noch in den Trümmern hausten, präsentierten andere darin die Abendkleider der ersten Nachkriegssaison. (…) Die in Scherben liegende Stadt bot ein allumfassendes Vanitas-Motiv und belebte so einen Sex-Appeal wieder, den man vor allem in katholischen Städten aus der barocken Vergeblichkeitsrhetorik kannte.“
Würde ich alle Passagen hier zitieren, die mich nachdenklich gemacht haben, schaudern und schmunzeln haben lassen, alle Aha-Effekte und alle genüsslichen Seufzer, dieser Text würde halb so lang wie das Buch. Das hier ist also ein winziger, fast zufälliger, Ausschnitt meiner Lektüre-Erinnerung. „Wolfszeit“ handelt, wie der Untertitel verrät, von „Deutschland und den Deutschen 1945-1955“ – doch es ist so viel mehr. Ein wahrer Geschichtenfundus, Fotoband samt Anleitung (ohne, dass man’s merkt) zur aufmerksamen Bildbetrachtung, zum Blick hinter und neben das Abgebildete. Ich weiß nicht, wie viele Stunden Harald Jähner in Archiven, Bibliotheken, zwischen Buchseiten, alten Zeitungen, mit dem Schauen von Filmen und Wochenschauen, mit dem – genauen – Hören von Musik verbracht hat, aber demnach, woran er einen in „Wolfszeit“ teilhaben lässt, müssen es tausende gewesen sein.
Und Textstellen wie die oben zitierte verdeutlichen, was die Lektüre all dieser Zeugnisse einer Zeit, eingeordnet, hinterfragt und mit den Gedanken des Autors angereichert, mit einem macht: Man liest Begriffe neu. Begriffe, die wie Überschriften, Chiffren für die Nachkriegszeit stehen: Trümmer. Trümmerfrauen. Stunde Null. Schuld und Verdrängung. Heimatlosigkeit. Wiederaufbau und Neubeginn. Wirtschaftswunder. Und derer mehr. Sie alle sind irgendwie richtig, erzählen viel und von vielen – und blenden so viel aus, lassen so viele Einzelschicksale und auch parallel gemachte Erfahrungen vieler außer Acht. Und oft auch das Warum:
„Wenn laut Adorno nach Auschwitz schon das Gedichteschreiben nicht möglich war, wie sollte es dann das Sprechen sein? Sich ausziehen zu müssen, darauf waren die wenigsten gefasst.. Man schwafelte oder schwieg. Das treffende Wort fanden die wenigsten. Das passende Wort war eine schiere Unmöglichkeit.“
Indem Jähner zwar die wichtigsten Daten, Ereignisse, Phasen, die zu Ikonen geworden Bilder und berühmten Stimmen, die populären Schlagworte und „Diagnosen“ gesellschaftlicher Zustände benennt, sie aber anreichert durch viele kleine Stimmen, Tagebücher und die Medaillenkehrseiten, entsteht ein ganz neues, äußerst lebendiges, vielgesichtiges Bild dieser Zeit.
Abschotten und Zuwenden
„Igelten die einen sich in den Bastionen ihrer Verbitterung ein, stürzten sich die anderen in neue Bekanntschaften, Freundschaften und Lieben. Vertreibung, Zuzug und Evakuierung hatten nicht nur Feinseligkeiten zur Folge, sondern auch Anziehungskräfte und Neugier.“
Aufgeregt, erschüttert, bewegt, amüsiert habe ich mich durch die verschiedenen Zeitpunkte des Kriegsendes, die Völkerwanderungen, Wolfsburg und den Beginn der sozialen Marktwirtschaft, Kultur und Architektur und neue und alte Karrieren in der Politik gelesen. Aber noch viel erhellender, weil unbekannter und unerhört leicht und sinnlich erzählt, fand ich die Kapitel über das „Aufräumen, Lieben, Klauen und Einkaufen“, wie Jähner diesen Schwerpunkt seines Buches im Vorwort nennt.
„Der Nierentisch war das dekorative Symbol entnazifizierten Wohnens. Mit abgespreizten Beinen und aufreizendem Optimismus stand er spillerig im Weg: asymmetrisch, verletzlich und hallodrihaft verkörperte er das Gegenteil des wuchtigen Reichskanzleistils. In grazilen Schühchen aus Messing, mit einem goldfarbenen Umleimer gegürtet und oft noch mit mediterranem Mosaik belegt, sah er aus wie die Travestie eines modernen Tisches.“
„Beim Tanz auf den Ruinen war der Tod allgegenwärtig und anonym. Man spielte auf in einer Umgebung, in der man an die Vergänglichkeit nicht erst erinnert werden musste. Mancherorts roch es buchstäblich noch nach Leichen, der Krieg dampfte hier besonders zögerlich aus.“
Was der Mensch vermag und aushält. Woran er sich festhält. Wie viel Phantasie und Kraft die Not gebar, wie viel tolerierte Skrupellosigkeit, aber auch ungeschriebene Gesetze. Wie viel Gier – aber auch wie viel Vertrauen und Aufeinanderangewiesensein. Verlust und neue Lust. Gewalt und zarte Bande. Misstrauen und Hingabe. Alles nebeneinander. Faszinierend.
Das Titelbild und seine Geschichte
Apropos Faszination: Im Gespräch mit der Berliner Zeitung, deren Feuilletonchef Jähner bis 2015 war, sprach er kurz nach der Preisverleihung unter anderem über das Foto auf dem Cover seines Buches. Man sieht einen Mann darauf, der sehr aufrecht und irgendwie gelassen, fast beschwingt eine supersauber gekehrte Straße entlang läuft. Unter dem Arm trägt er einen Einkaufskorb, auf dem Kopf einen Hut, darunter blinkt ein weißer Hemdkragen. Links und rechts türmen sich die Trümmer. Es habe ihn berührt, sagt der Autor über das Bild des Freiburger Fotografen Werner Bischof, dieser Optimismus inmitten der Zerstörung. Und erzählt, das Foto habe drei Jahre, während der Arbeit an „Wolfszeit“ über seinem Schreibtisch gehangen und „ein bisschen die Stimmung vorgegeben“.
Ich finde, sehr. In diesem wie in vielen anderen Fotos im Buch, zeigt sich die ganze Widersprüchlichkeit dieser Zeit, ihre vielen Gesichter. Vor allem aber auch das, was es so lebendig macht: Die Bereitschaft des Autors, sich berühren und verwirren zu lassen. Die Lust am Rätseln, am Suchen und Finden und am Abenteuer des genauen Hinsehens, Lesens und Hörens. Auch von Zahlen. Über die lustvolle Hinwendung vieler deutscher Frauen zu den amerikanischen GIs und der Darstellung der historischen Einordnung des Phänomens schreibt Jähner:
„Geht es um Frauen in der Nachkriegszeit, schlägt in der Geschichtsschreibung die Stunde der Statistik. Sofort wimmelt es von Zahlen und Tabellen zur wirtschaftlichen Situation, zur Berufstätigkeit und zur Mitarbeit in Parteien und Verbänden. Für die Lust am Leben bleibt da wenig Sinn. Diese Verengung auf die rein materiellen Aspekte des Umgangs mit den Alliierten macht die Frauen zu bloß passiven Objekten der Misere. Eine tiefere Betrachtung der Schwärmerei für die Amerikaner würde sie wenigstens teilweise als Subjekte ihres Lebens anerkennen. Aber selbst die feministische Wissenschaft sieht Frauen eben gerne als Opfer und kann ihrem Begehren wenig Freude abgewinnen.“
Ich habe durch diese Lektüre nicht nur sehr viel erfahren über die Anfänge des Landes, in dem ich lebe, über die Dürftigkeit von Labeln und Schlagwörtern für eine bestimmte Zeit und darüber, wie vorsichtig man sie nehmen sollte, bei allem Nutzen, den sie für die Verständigung über die Geschichte haben, sondern auch über die Gegenwart. Wie Deutschland geworden ist, was es ist. Mit all seinen Widersprüchen, beängstigenden Schatten- und leuchtenden Vorbildseiten – und seinen Debatten. Wohl deswegen fiel mir der Satz von Koselleck wieder ein beim Lesen, 20 Jahre, nachdem er mir im Studium immer wieder durch den Kopf ging. Auch viele Sätze und Bilder aus „Wolfszeit“ werden sicher treue Begleiter.
Harald Jänner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955. Rowohlt 2019, 480 Seiten, ISBN: 978-3-7371-0013-7
Ein wunderbarer und kluger Text. Triftiger Grund das Buch zu kaufen.
Schön, wenn ich den liefern konnte. Viel Freude und Nachdenkstoff bei der Lektüre. Ich hatte beides. Habe, bis heute.
Liebe Barbara
Herzlichen Dank für diese wunderbare Rezension, die mich mehr als neugierig auf dieses Buch gemacht, zumal es ja eine Zeit beschreibt, die ich am Ende knapp, wenn auch als Kleinkind, noch erlebt habe. Morgen werde ich das Buch bestellen!
Das freut mich, lieber Wolfgang. Nach dem Preis wird es viele Leser finden – aber jeder zusätzliche ist toll. Liebe Grüße aus Berlin, Barbara