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Musik Lesen: Ich kann Dich hören
Die Franck-Sonate in A-Dur: „Stabil und streng“. Mendelssohn Bartholdy: „Flink und federnd“. Dvořáks Konzert für Cello und Orchester: „Ein Gewitter!“ Doch der dritte Satz, er muss klingen „wie Nieselregen“… Der Titel von Katharina Mevissens Roman ist Programm und das ist schlichtweg überwältigend. Weil es so selten vorkommt, dass man Musik lesen kann. Töne beim Lesen hören, und nicht nur sie, sondern auch Atmosphäre in Räumen, Schweigen, den Klang verschiedener Sprachen, die Stadt, Gefühle. Die junge (Jahrgang 1991) Autorin und Roman-Debütantin (man will es kaum glauben) schafft in zweierlei Hinsicht etwas, das allzu oft misslingt: Sie beschreibt Musik – deren ganze Wirkmacht sich da entfaltet, wo Sprache aufhört – und sie schlüpft erzählend in eine Figur, die ganz anders ist als sie: Osman, ein Musikstudent halb deutsch, halb türkischer Herkunft.
Und wie sie hineinschlüpft in diesen jungen Mann. Wie eine erfahrene Schauspielerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ich habe beim Lesen schnell und lange vergessen, dass hier nicht Osman erzählt, sondern eben Katharina Mevissen. Und mir oft gewünscht, sie bliebe ganz nah an ihm. Denn viele Kurven, die der Roman macht, sind ganz unnötig. Diese kleine Kritik steht hier bewusst am Anfang und soll wirklich klein ausfallen, denn viel wichtiger ist, was dieses Buch so groß macht.
Zwei Geschichten
Osman stürzt, musikalisch und darüber hinaus, in eine Krise. Auslöser ist ein komplizierter Handgelenkbruch: Sein Vater Suat kann wegen der Verletzung nicht mehr Geige spielen und verliert so den Halt, den er nur in der Musik hatte. Tante Elide, die für Osman die meiste Zeit seines Lebens die Mutter ersetzte – die leibliche, Doris, verschwindet früh, den Grund erfahren Osman und der Leser spät und mit einem mächtigen Beben –, muss sich nun um den alten Mann kümmern und fordert Osmans Hilfe. Der aber hält sich seit Jahren fern. In dieser Distanz entfaltet sich, schmal und gerade formuliert in Mevissens ganz eigener Tonalität, ein Panorama von Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen, von Schuldgefühlen, Versäumnissen, offenen Fragen, nur dürftig verheilten Verletzungen, Schweigen – zusammengehalten und zugleich gespalten durch die Musik.
Das alles hätte, finde ich, völlig gereicht. Die Nebenspur, im buchstäblichen Sinne, nämlich ein Diktiergerät, dass Osman findet und immer wieder abhört, ist zwar ein aufregender Einfall, doch schleudert dieses weitere Leben, dessen man bruchstückhaft Zeuge wird, immer wieder weg von den Personen, über die man unbedingt mehr erfahren will. Ellas (der das Gerät gehört) und Jos (taubstumm, was eine weitere, irgendwie logische, aber gerade deswegen etwas aufgedrückte Ebene in dieses klingende Buch bringt) Geschichte wäre ein weiteres Buch. Der dramaturgische Kniff, Osman in ein fremdes Leben flüchten zu lassen, statt sich den Baustellen seines eigenen zu stellen und ihn so letztendlich doch dorthin zu führen, ist zwar genial – bleibt aber zu dünn.
Gerade im Vergleich zu den Geschehnissen außerhalb des Tonbandgeräts. Seiner Erzählung, Entwicklung, seinem Leben mit, in und gegen die Musik!
Osman und das Cello
Wir tauschen Blicke. Wir stimmen nach. Ein paar grunzende Geräusche aus den mittleren Reihen. Dann wird es still, alles spannt sich. Wie in den letzten Sekunden vorm Sprint, wenn man in die Hocke geht, das Körpergewicht leicht nach vorne verlagert. Philipp nickt kurz, fünfzig Meter Mendelssohn Bartholdy, flink federnd. Der Bodenkontakt ist flüchtig, der Puls hämmert. (…) Wir fliegen durch das Stück bis zur ersten weißen Linie, dann werden wir langsamer, leichter, trippelnd, weiter auf Zehen- und Fingerspitzen, pizzicato. Hier kann man atmen. Erster Satz.“
Atemlos liest man das, ja. Ist mittendrin, als Zuhörerin, und irgendwie auch zwischen den Musikern, rast mit ihnen, schwitzt mit ihnen, spürt die Erfüllung wie die Anspannung. Und so berauschend die Passagen sind, an denen man die Fragilität und Erhabenheit lesend erfahren darf, die nur Musik gleichzeitig entfalten kann, so schmerzhaft sind jene, in denen Osman mit den Tönen ringt. Mit den Grenzen seiner Hände, mit seiner seelischen Verfassung, die, wie jeder weiß, der ein Instrument spielt, sich immer in den Klang überträgt. Osman drückt das so aus:
„An solchen Tagen hasse ich es, dass man sich hinter Musik nicht verstecken kann. Dass sie einen durchsichtig macht und hören lässt, wie kaputt, schlapp, blockiert man ist. Sie nimmt alles in sich auf und entblößt es, zumindest für Menschen wie Kosaki.“
Kosaki ist Osmans Lehrer, von ihm stammt die für mich unvergessliche Forderung, der dritte Satz von Dvořáks Cellokonzert müsse „fragil, scheu, fragend“ klingen. Wie „Nieselregen“. Man kann gar nicht anders, als, siehe oben, sofort das Konzert hören. Dem Regen nachhorchen. Hören, was Osman nicht vermag. Und windet sich danach noch mehr an den Stellen, die sein Scheitern beschreiben. Bei einem völlig missglückten Auftritt hört man „die Musik schwitzen“, die Töne sind „schmierig und feucht“. Beim Üben wählt er „einen Ton, mit dem ich anfangen kann. Es ist ein tiefer, vibrierender Ton, der mich einschließt, dunkel und lehmig.“Doch dann „sackt (er) nach unten weg, ins Morastige:
„Ich blättere den dritten Satz auf und starre lange in die Noten. Die Kontaktlinsen jucken in meinen Augen, und die Notenlinien zucken. Gegen die Schwerkraft beginne ich, vom Blatt zu spielen. Der Klang ist holzig und stumpf, und tiefer unten wird er sumpfig.
Ich will diese Musik zersägen, die ich nicht zu greifen bekomme, will sie zerstoßen, die zarten leisen Passagen im dritten Satz (…) Ich schneide Töne ins Zimmer, grobe Brocken, laut, fest, leblos. Es schmerzt und schürft in den Ohren und an den Fingerkuppen.“
Töne und Stimmen, Schweigen und Stille
Ja, das schmerzt. Ich weiß nicht, ob ich den Kampf des Musikers mit dem Instrument, das so eine Diva sein kann, mit der störrischen Seite der Musik, schon mal so gelesen habe. In ihrer Rezension in der Berliner Zeitung schreibt meine Kollegin Cornelia Geissler: „Um die Musik zu begreifen, von der im Roman die Rede ist, braucht man die Playlist nicht, die als QR-Code für Spotify am Ende des Buche steht.“ Das stimmt. Mevissen schafft das mit Worten. Dennoch habe ich alles angehört. Man bekommt so Lust darauf, will, nachdem man die Töne gelesen hat, nun die Worte hören. Und ich werde von nun an anders hören und sehen, wenn Profimusiker tausende im Konzertsaal beglücken.
Apropos Konzertsaal: An anderer Stelle habe ich schon mal versucht, der besonderen Stille näher kommen, sie schreibend zu packen, die man dort hören kann. Weil es ohne Stille, ohne Pausen, ohne Abwesenheit des Klangs keine Musik gäbe, ist es nur logisch, dass auch sie in Mevissens Roman eine Rolle spielt. Abermals hörbar formuliert:
„Ich kann nicht weg von hier, aus meinem Kopf. Muss es immer wieder hören. Rutsche an der gekachelten Schwimmbadwand entlang, bis zu der Stelle, wo ich weggleite und falle, und da ist nichts, nur diese große, tonlose Stille, die Blasen schlägt.“
An anderer Stelle platzen diese Blasen im Kopf, ist es eine Stille, „die sich wölbt und aufbläht“. Und dem Schweigen, das zwischen Vater und Sohn herrscht, selbst dann, wenn sie sprechen, zwischen Osman und Luise nach der missglückten ersten Annäherung, zwischen allen, die im Buch um Worte ringen, könnte man einen eigenen Text widmen. Mevissen beschreibt es oft anhand der Mimik, der Gesichter und der Räume, dem, was sich darin abspielt. In „Suats Gesicht, das einstürzt. Es geht so schnell, dass er sich nirgends festhalten kann“. An anderer Stelle klingt das Schweigen so:
„Suat gibt mir den Löffel, unsere Hände treffen sich. Neben meinen sehen seine unbenutzt aus. Schön, weich, sauber (…) Er starrt auf seinen Gips. Sein Gesicht ist ohne Farbe. Mein Herz sieht ihn auch und erschreckt sich. Weil, es weiß nichts mehr, kann nichts mehr sagen dazu. Es findet kein Gefühl. Die Liebe ist müde. (…)
Alle Geräusche sind sehr laut, wegen dieser Stille, die mein Bruder in der Küche sammelt, seit Stunden. Ich knipse das Radio an, WDR Klassik, drehe am Sender, jetzt kommt deutscher Pop. Suat verzieht das Gesicht. Das Radio hilft nicht, macht die Stille hinter der Musik nur größer.“
Was nicht nur an der Größe des Schweigens, sondern auch an der Art der Musik liegt. Über Lounge-Musik lässt Mevissen Osman an anderer Stelle folgendes sagen:
„Sie perlt an ihnen ab und hinterlässt einen schillernden, schmierigen Film auf allem. (…) Die gleichgültigen Harmonien schwappen vor und zurück durch meinen Kopf, auch als ich längst im U-Bahnschacht verschwunden bin.
Die Bahn fährt ein. Auch hier ist solche Musik, Musik aus schimmerndem Polyester und künstlichen Aromen. Jugendliche lassen Techno vom Band laufen, Plastikfolie, in Streifen geschnitten und zusammengeknüllt, übereinander gelegte und miteinander verklebte Fasern, die knisternd in meinem Kopf gedrückt werden.“
Diese „gleichgültigen Melodien“ haben sich ebenso in meinem Kopf festgesetzt wie der „Nieselregen“ in Dvoráks dritten Satz und die „blasenschlagende Stille“. Ja, man kann dieses Buch hören. Noch lange, nachdem man es zugeklappt hat. Und hört vieles danach anders.
Katharina Mevissen: Ich kann Dich hören. Wagenbach 2019, 168 Seiten, ISBN: 978-3-8031-3306-9
Du machst mich neugierig, liebe Barbara, dabei ist mein RuB doch schon so gut gefüllt. Sehr schöne Rezension!
Lieber Wolfgang, an Dich habe ich oft gedacht beim Lesen. Was für ein sagenhaftes Hörbuch das wäre… mit den Stücken dazwischen. Die Worte hören und die Musik. Das wäre das Größte. Liebe Grüße, vielleicht bringst Du es ja doch noch unter bald, Barbara