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Die Verwirrung feiern: Die Menschenfabrik
„Aber die Willensfreiheit!“ entgegnete ich – „Die ist bei den anderen auch nur ein Hirngespinst“ – Aber die süße Täuschung, sie zu besitzen!“ – Ihren Verlust spürt meine Rasse auch nicht.“
Diese Dialoge! Fast jeder lässt einen innehalten. Verblüfft, erhellt, verwirrt. Doch es gibt auch sehr viele schöne Sätze in diesem schmalen Band, deswegen ein kleiner Exkurs zu Beginn, denn einer der schönsten steht lustigerweise im Vorwort und, ich kann es kaum glauben, er entstammt der Feder von Joachim Bessing. Mit dem hatte ich schon kurz nach seinem Auftauchen an meinem literarischen Horizont abgeschlossen, als ich mich 1999 mit wachsender Abscheu durch „Tristesse Royale“ kämpfte, dieses kaum erträgliche dekadente Geseier von fünf Milchbärten, die sich für Männer hielten. Damals konnte ich noch nicht so gut, was ich heute kann, nämlich ein Buch zeitig weglegen, wenn überflüssig bis ärgerlich ist. Lesezeit ist Lebenszeit. Bessing also hat zu Oskar Panizzas Erzählung „Die Menschenfabrik“, die jetzt als Einzelbändchen bei Hoffmann und Campe erschienen ist, ein geistreiches und fast lyrisches Vorwort geschrieben. Angetan hat es ihm – wie mir – auf Anhieb das Zitat von Ludwig Tieck, das der Erzählung voransteht. Es beginnt mit den Worten: „Oft bin ich ganz verwirrt.“
Bessing schreibt: „Man nickt dem greisen Kustoden freundlich zu. Denn das ist als Grundvoraussetzung geblieben für den schreibenden Beruf. Wer Bescheid weiß, kann nichts schreiben.“
Wer Bescheid weiß, kann nichts schreiben. Boing. Genau das ist es. Die Verwirrung, das Sichwundern, das innerliche Kopfschütteln und Esnichtfassenkönnen – all das zeichnet nicht nur diese kleine Dystopie aus, die deswegen keine ist (dazu gleich mehr), sondern doch jeden guten Text. Der Satz geht mir jetzt immer durch den Kopf, wenn ich Bescheidwissertexte lesen. Sogenannte Analysen, die in Minuten erstellt wurden. Sekundenschnelle Urteile. Vermeintliche Milieustudien oder Generationen-Bilder. Usw. Das größte Sammelbecken dafür sind sicher die sozialen Medien, wo alle Bescheid wissen, aber auch die Berufsbescheidwisser schreiben manchmal sowas. In den Medien, zwischen Buchdeckeln. Jetzt hab ich einen Begriff dafür, was da fehlt: Die Verwirrung.
Ende des Exkurses. Panizzas Erzähler macht alle Stufen der Verwirrung durch. Von der hochgezogen Augenbraue über Das-kann-nur-ein-Traum-sein bis hin zum Entsetzen. Er gerät auf der Suche nach einem Ort für die Nachtruhe in eine seltsame Fabrik, wo, der Titel verrät es, Menschen hergestellt werden. Ein mehr als bizarrer Direktor führt ihn freudig durch die Räume und erläutert ihm mit Seite um Seite wachsendem Enthusiasmus die Vorzüge dieser neuen „Rasse“ gegenüber der herkömmlichen, via Zeugung und Geburt entstandenen. Die Erzählung, die 1890 in einem Sammelband erschien, wird selten thematisiert ohne den Verweis auf Orwell und Huxley sowie das Erstaunen darüber, dass Panizza so viele Jahrzehnte vorher den Einheitsmenschen entwarf, der weder eigenständig denkt noch fühlt, aber sehr pflegeleicht ist. Und diese prominente geistige Verwandtschaft gebührt Panizza auf jeden Fall – und doch ist seine Erzählung etwas ganz anderes, finde ich.
Die düstere Vorstellung vom Menschen, der wie Brot gebacken wird (diesen Vergleich zieht der vor Entrüstung japsende Erzähler und der Direktor stimmt ihm fröhlich zu) kommt zwar auf, mag sich aber nicht so recht festigen. Warum, bestätigt auch die mehr als überraschende Pointe zum Schluss. Und der Text tut es die ganze Zeit. Nur kann man es nicht so richtig greifen. Man ist – verwirrt.
„Um Gottes Willen“, entgegnete ich – „wie kommen Sie auf den Gedanken, auch künstliche Kinder zu machen?“ – „Die große Miserablilität unserer heutigen Ehen hat mich auf den Gedanken gebracht.“ – Was, Sie werden doch unser heutiges Menschengeschlecht und seine Fortpflanzung nicht in Frage stellen wollen!?“ – Wir wollten nur einige Verbesserungen anbringen.“ (…) – Wollen Sie denn das sittliche Band zwischen Eltern und Kindern zerreißen?“ – „Diese hier werden sehr gerne gekauft“…
Und amüsiert. „Die Menschenfabrik“ ist urkomisch und entlarvt auf bissigste die Doppelmoral der, nun ja, der Bescheidwisser. Der Erzähler zieht in seiner immer schrilleren sittlichen Empörung immer neue Denker und Grundsätze heran, um den Chef-Menschenfabrikanten von der Verkommenheit seines Tuns zu überzeugen und wird dabei zunehmend zur Witzfigur. Man will ihm als Leserin ja recht geben, hat Huxley gelesen und Orwell, lebt in Zeiten des Optimierungswahn und ängstlich die Möglichkeiten der Gentechnik beäugend, von denen Panizza noch keine Ahnung hatte. Aber man kann nicht. Weil der andere schlagfertiger ist? Die Wirklichkeit auf seiner Seite hat? Oder weil man früh ahnt, was bald zutage tritt: Dass sich die ethischen Bedenken nur an der Beschaffenheit der neuen Menschen entzünden, und nicht an der Tatsache, das sie künstlich hergestellt werden. Das flicht Panizza ganz nebenbei ein:
„Nette und noble Menschen!“ – wiederholte ich – „als ob dass das Ziel wäre, auf das wir lossteuern! – Brave und ehrliche Menschen, – ist das nicht viel mehr? Ja, sehen Sie Herr Direktor, wenn Sie nach DER Richtung vorgegangen wären (…) wenn Sie mit vorwiegend sittlichen Impulsen begabte Menschen geschaffen hätten – wie soll ich sagen? – eine Art Moral-Rasse (…) ja, dann hätte ich Respekt vor Ihnen…“
Man reibt sich die Augen. Fragt sich – wieder – einmal, wer von den beiden eigentlich klarer sieht. Und stellt sich den Autor vor, wie er selbst verwundert den Fortgang seiner Geschichte beobachtete. Eben nicht Bescheid wusste. Und bleibt verwirrt. Aufs Ergiebigste.
Oskar Panizza: Die Menschenfabrik. Hoffmann und Campe 2019, 66 Seiten, ISBN 978-3-455-00581-3
Schön! Aber wieso hast Du keine „like“ Funktion eingeschaltet? lg s
Danke, Sabine. Dein schöner Blog war eine von einigen Ermutigungen, es endlich auch anzugehen. Die Like-Funktion… es ist noch einiges im Werden. Es soll auch einen Newsletter geben. Bald. Liebe Grüße!
Danke für den Tipp, liebe Barbara, ein Büchlein, dass ich doch einmal zwischendurch Gelegenheit habe zu lesen.
Lieber Wolfgang, ja, das solltest Du unbedingt tun. Eine kleine nachhaltige Lektüre – und im Nachhall groß. Vielleicht ein Hörbuch, irgendwann? Ich kenne die anderen Geschichten nicht, werde das aber bald nachholen.