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Lesen und sprachlos sein: Bluets
„65. Die Gebrauchsanweisung, die auf der Verpackung des blauen Bröckchens gedruckt war: >>Blau in Stoff einwickeln. Das Blau rühren und gleichzeitig in verbleibendem Spülwasser kneten. Jedes Teil separat für kurze Zeit eintauchen; dabei in Bewegung halten.<< Ich mochte diese Gebrauchsanweisung. Ich mag Blaues, was in Bewegung bleibt.“
„133. Ich habe versucht, mich in einem Land von beträchtlichem Sonnenschein einzurichten und damit meinen Willen loszulassen.“
Wie anfangen. Wo sind die ersten Worte, wenn man sie braucht (ein Satz aus der Rubrik ewige Fragen). Beginne ich also mit den zweiten. Dass ich über dieses Buch eigentlich gar nicht schreiben will. Und doch. Und nicht. Und nun doch. Ich hab es schon eine Weile. Und nehme es immer wieder in die Hand. Um einzutauchen in „das tiefe Blau der Worte“ (Cath Crowley, auch so ein glückstaumeliges Lektüre-Erlebnis dieses Lesejahres). Die Sache ist die: „Bluets“ von Maggie Nelson (aus dem Englischen von Jan Wilm. Ein tiefblaues Danke.) ist gleichzeitig so bleibend und flüchtig, dass man sich kaum traut, es in Worte zu fassen. Also, ich. Weil ich fürchte, die teilweise so zarten Wortgebilde könnten zusammenfallen, sich zurückziehen, wenn ich sie meinerseits mit Worten anfasse. Wie eine Mohnblume. Aber wenn „Bluets“eine Blume wäre, wäre es ja eher eine Kornblume, und so wage ich es doch.
„81. Was ich weiß: Als ich Dich traf, begann ein blauer Rausch. Ich will Dich wissen lassen, dass ich Dich nicht länger verantwortlich mache.“
„199. Denn sich zu wünschen, man könne vergessen, wie sehr man jemanden geliebt hat, und dann tatsächlich zu vergessen – das kann sich schon zeitweise anfühlen wie das Schlachten eines schönen Vogels, der sich zu nichts weniger als durch Gnade entschieden hat, in deinem Herzen sein Nest zu bauen.
Es geht außerdem um die Liebe. Eine vergangene und höchst lebendige. Weil der Schmerz eben so verdammt lebendig ist, dass Vergangenes manchmal einfach nicht vergehen will. Es geht um das Sichverlieren, Sicheinanderhingeben und Sichhingeben, auch wenn da niemand mehr ist, der sich mit hingibt. Es geht um Körper, um Geist, ums Schreiben und seine Möglichkeiten und Grenzen. Um Freundschaft. Krankheit. Nähe. Und immer wieder um die Farbe Blau. Blaue Dinge, blaue Lieder, blaue Gefühle, blaue Anzüge, blaue Geschichten, Blau in Gemälden. Blau in allen seinen Farben. Und um die Unmöglichkeit, das Phänomen Blau in seiner ganzen Wucht mit Worten zu packen. Wie die Liebe. Wie das Begehren. Wie den Schmerz. Maggie Nelson hat es trotzdem versucht und herausgekommen ist ein Buch, das einen hypnotisiert, sehr sanft berührt, dann wieder mit Gewalt schüttelt, das Reisen unternimmt durch die Philosophie-, Literatur-, Musikgeschichte, durch die Natur und – das alles in 140 kleinen Texten, ach quatsch, klein, ganz groß sind sie, ob zwei Seiten oder ein Satz.
„71. Ich habe nun schon seit einiger Zeit versucht, in meiner Einsamkeit Würde zu finden. Ich habe festgestellt, dass ich Schwierigkeiten damit habe.“
„72. Es ist natürlich einfacher, in seinem Alleinsein Würde zu finden. Einsamkeit ist Alleinsein mit einem Problem.“
Manche dieser Sätze sind Ohrwürmer, treue Begleiter geworden, poppen auf in ihrer ganzen hellen oder fast schwarzen Blauheit. Manche sind wie Spinnweben. Fällt die Sonne anders, sehen sie plötzlich ganz fremd oder gar weg aus. Hinter einigen hört man einen Hammer auf den Tisch sausen. So donnern sie. Selten habe ich in dieser Knappheit so klare, drastische und zugleich sinnliche Worte über Sex gelesen. An wieder anderen rätsele ich noch herum. Sie fliehen, verigeln sich, sobald man sich ihnen nähert. Weshalb ich ja gar nicht soviel zu „Bluets“ sagen wollte. Sondern es einfach immer bei mir tragen. Nun hab ich’s doch getan. Das Buch liegt aber heil neben mir. Ist vielleicht doch keine Blume. Sondern ein Diamant. Ein Aquamarin. Und der letzte Satz fehlt mir ebenso wie der erste. Aber das macht nichts. Einen Anfang und ein Ende um „Bluets“ zu wickeln, wäre wie es zu knebeln. Und genau das wollte ich ja nicht.
„207. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, als ich den Rat von Henry James – Versuche einer der Menschen zu sein, denen nichts entgeht! – zutiefst beherzigte. Ich glaube, ich stellte mir damals vor, ein solcher Mensch zu werden zu müsste letztlich in jedem Fall eine Bereicherung darstellen. Doch wenn man wirklich zu einem Menschen wird, dem nichts entgeht, entgeht einem auch nicht der Verlust.“
Maggie Nelson: Bluets. Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm. Hanser Berlin 2018, 112 Seiten, ISBN 978-3-446-26044-3