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Vom Verwobensein: Was man von hier aus sehen kann
„Jetzt sind wir ganz allein, sagte ich. Der Optiker legte seinen Arm um mich und zog mich näher zu sich heran. „Keiner ist alleine, solange er noch wir sagen kann“, flüsterte er. Dann gab er mir einen Kuss auf den Kopf. (Marianna Leky: Was man von hier aus sehen kann)
In den letzten Jahren erlebte ich mehrfach dieses magische Ineinandergreifen von Ereignissen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Und oft haben Bücher dabei eine Rolle gespielt. Es passierte etwas in der Lektüre und dann auch in der Wirklichkeit. In der das Buch wiederum kurz später um die Ecke kam, als wollte es mich daran erinnern, dass man all die hinreißend-verrückten Überschneidungen, Zusammenhänge, Mehrfachbegegnungen, die das Leben einem so vor den Latz knallt, nicht einfach als Zufälle abtun kann. C.G. Jung nannte das Synchronizität. Ich mag lieber Musils Bild von der „unendlich verwobenen Fläche“. Außerdem kann man das noch aussprechen, wenn man ganz lektürebetrunken ist. Auch Louisa in Marianna Lekys unfassbaren Roman merkt, dass sich diese Wörter mit –tät am Ende nicht für Räusche eignen:
„Spontanität und Authentizität sind das A und O“, sagte ich, und ich hätte mir besser zwei Wörter aussuchen sollen, die man auch mit Haselnusslikör einwandfrei aussprechen kann.“
Ein vergessenes Buch und ein Todesfall
Der Leky-Rausch rührt also nicht nur von der Lektüre, sondern auch aus dem Verwobensein. Ein kurzer Blick zurück: Im Winter 2018 trat ein Freund aus lange vergangenen Tagen für kurze Zeit wieder in mein Leben. Als Boten schickte er, wie soll es anders sein, einen Buchtitel. Es war ein Buch, das ich ihm vor über 20 Jahren geschenkt hatte: Die „Entdeckung des Himmels“, und Himmel! – ich entdeckte dieses Buch und den Lese-Himmel, durch den wir (und viele Kommilitonen) damals flogen, auf’s Neue. Und, auch bei der zweiten Lektüre, wie nah Tod und Trauer und das Das-Leben-feiern in Mulischs Buch einander sind. Eigentlich kaum auseinanderzuhalten. Verschränkt, verknotet, untrennbar.
Ich las das Buch in wenigen Tagen. An einem Abend mittendrin war ich im Theater. Auf der Bühne saß ein Mann am Sterbebett seines Vaters und schaute in einem langen Monolog auf sein Leben. Plötzlich zog er „Die Entdeckung des Himmels“ hervor, ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Was ich noch weiß: Auch ich hatte es in meiner Tasche. Und eine Gänsehaut. Am nächsten Morgen erreichte mich die Nachricht, dass der Vater meines Freundes gestorben war. Er gab seinen Tod mit einem Zitat aus Mulischs Roman bekannt.
Déjà-vu
„Das Okapi ist ein abwegiges Tier, viel abwegiger als der Tod, und es sieht vollkommen zusammenhangslos aus mit seinen Zebraunterschenkeln, seinen Tapierhüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Rehaugen und Mausohren. Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig…“
Welche Rolle das Okapi in Marianna Lekys Buch spielt, möchte ich hier nicht verraten, doch soviel schon: Es wird auch hier viel gestorben. Es ist eines dieser Bücher, in denen der Tod ein Protagonist ist, das aber gerade deswegen das Leben in einer Art feiert, dass man ständig hinauslaufen will und Menschen umarmen oder Bäume oder gleich das Leben selbst. Aber man muss ja weiterlesen, es geht nicht anders.
Eine halbe Stunde nach der letzten Seite, zerzaust, erschöpft, verheult und dümmlich grinsend vor Glück und Dankbarkeit, setzte ich mich an den Computer. Und las als erstes die Nachricht eines mir sehr nahen Freundes. Dass er wegfahren müsse, heute noch. Weil sein Vater gestorben ist.
Whoooosh. Déjà-vu. Zittern. Ungläubiger Blick zum Buch. Was spielt sich da ab, zwischen diesen Lebensbüchern und dem Leben? Und will ich das überhaupt wissen? Vielleicht muss man manche Zusammenhänge als das nehmen, was sie sind: Magisch. Real. Wunder. Leben eben. Leseleben. Das Leben lesen.
Und Auster wartet
Nach dieser Nachricht war mir klar, was ich vorher schon ahnte: Paul Auster, Archibald Ferguson, 4321, der im Kopf bereits angefangene Text, all das muss erneut warten. Denn diese 1264 Seiten, vier Leben und noch mehr Todesfälle jetzt wieder in die Hand zu nehmen, würde mich komplett niederstrecken. Zu viele Personen wimmeln noch durchs Denken, und auch in der Brust herum und, man verzeihe mir das gefühlige Wort, wärmen sie. Mit ihren Schrullen, ihrer Weisheit, ihren Fehlern, ihrer Großzügigkeit, ihrer Loyalität, ihrem Witz.
Selma saß dem Optiker gegenüber. Sie hatte Strümpfe ausgebessert, Überweisungen ausgefüllt und klebt jetzt Briefmarken auf Kuverts, mit dem Zeigefinger der verbogenen linken Hand strich sie über die Marken. Sie tut immer alles so, als täte sie es zum ersten und letzten Mal, dachte der Optiker. Dann sagte er: „Wusstest Du, dass es gar kein Ich gibt? Dass das sogenannte Ich nichts als eine Schwingtür ist, durch die der Atem ein und aus geht?“ – „Du bist eine Schwingtür mit ziemlich roten Wangen“, sagte Selma.– „Atme mal“, sagte der Optiker. – „Ich atme schon mein Leben lang.“ – „Ja, aber so richtig“, sagte der Optiker und atmete tief ein und aus. – „Hier steht, dass jede Erleuchtung mit dem Putzen des Bodens beginnt und endet. Wusstest Du das?“ – „Das wusste ich nicht“, sagte Selma, „aber ich hatte es gehofft.“
Dialoge wie dieser – typische – zwischen Selma und dem Optiker, ließen mich lachen und seufzen zugleich und nebenbei Sätze fürs Leben notieren. „Sie tut immer alles, als täte sie es zum ersten und letzten Mal.“ Eine ganze Philosophie steckt da drin. Die besten Ratgeber sind Romane wie dieser. Sind Figuren wie Selma, das Riesenherz des winzigen Dorfes, in dem ein Großteil der Geschichte spielt, und der Optiker, der sie schon sein Leben lang liebt. Wann und wie er ihr diese Liebe gesteht, sag ich nicht. Nur so viel: Es ist eine der herzzerreißendsten Szenen, die ich je gelesen habe.
Selma. Der Optiker. Louise. Sie sind die Achsen, um die sich alles dreht. Aber all die anderen Dorfbewohner berühren, bewegen, verstören und besetzen einen nicht weniger. Die feindselige und dabei doch einfach nur tieftraurige Marlies in ihren Unterhosen und Norwegerpullis, Elsbeth, sehr dick, aber immer schick, der Einzelhändler und sein Bruder Friedhelm und Palm, brutaler Vater von Martin und Trinker zunächst, später tief religiös und verstummt nach einem fürchterlichen Schlag: Jede und jeder einzelne bekäme von mir den Oskar für die beste Nebenrolle, wären sie Figuren in einem Film.
Die Kraft der Fürsorge
Apropos Marlies. Apropos Palm. An diesen beiden wird am deutlichsten, warum man so gewärmt, lebensdurstig und randvoll mit Zuneigung gegenüber allem und jedem aus der Lektüre geht. Palm ist bis zu dem Schicksalsschlag ein echtes Ekel, und Marlies lässt nichts aus, um auch wirklich den letzten Menschen aus ihrer armseligen Behausung zu verjagen. Trotzdem lassen die Dorfbewohner die beiden nicht allein. Mordgelüste und beinharte Loyalität und Treue gehen hier Hand in Hand. Man lässt einander nicht hängen.
Als Louise, noch ein Kind, die erste Begegnung mit dem Tod macht, zusammensackt und drei Tage lang schläft, trägt Selma sie die ganzen drei Tage. Auf den Schultern, der Hüfte, auf dem Schoß und natürlich in einem übergeordneten Sinne. Sie lernt sogar, ihre geliebten Mon Cheries mit einer Hand auszuwickeln. Damit sie das im Schlaf trauernde Kind nicht eine Sekunde allein lassen muss. Ein anderes Mal, da ist Louise bereits eine junge Frau, ist es am Optiker, Trost zu spenden:
„Es wird in Deinem Leben Momente geben, in denen du dich fragen wirst, ob du überhaupt irgendetwas richtig gemacht hast. Das ist ganz normal. Es ist auch eine sehr schwere Frage. Um die 180 Kilo, würde ich sagen. Aber es ist eine, auf die es eine Antwort gibt. Sie taucht meist spät im Leben auf. Ich weiß nicht, ob Selma und ich dann noch da sein werden. Deshalb sage ich Dir das jetzt: Wenn es soweit ist, wenn diese Frage auftaucht und Dir nicht sofort etwas einfällt, dann erinnere Dich daran, dass Du Deine Großmutter und mich sehr glücklich gemacht hast, so glücklich, dass es für ein ganzes Leben von vorne bis hinten reicht. Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass wir nur für Dich erfunden worden sind. Und wenn es einen guten Grund gibt, erfunden zu werden, dann bist das Du.“
Und die Liebe
Und als würde das alles nicht reichen, kommt auch noch Frederik, der Mönch aus dem Wald mit den Augen in einem Blau, über dessen Wesen sich die Dorfgemeinschaft nicht einig wird. „Blau wie die masurische Seenplatte“, sagt Selma. Elsbeth sieht ein „Blau wie Mitttelmeerblau in der Mittelmeermittagssonne“. „Eine Art Cyanblau, um genau zu sein“, erläutert der Optiker. „Blau wie blau eben“
Mit seinem Auftauchen wurde die Lektüre zur Zerreißprobe, zu einem herrlichen, lustvollen, peinigenden Dilemma. Denn einerseits wollte ich möglichst schnell erfahren, ob Frederik bei seinem Lebensentwurf bleibt, also in Japan als buddhistischer Mönch. Ob es bei den Briefen bleibt, die er und Louise sich schreiben, zehn Jahre lang. Oder ob er zulassen würde, was Louise schon viel früher weiß. Dass sich „das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdrehen würde. Las schneller und schneller. Drehte meinerseits den großflächigen Tagesplan einmal um, ohne mich zu bewegen.
Ich richtete mich auf, Frederik und ich standen voreinander, und ich überlegte, was ich auf die Schnelle und vorsätzlich noch verlieren könnte, damit Frederik und ich hier noch etwas zu suchen hätten.
„Ich tue übrigens die ganze Zeit nichts anderes, als Dich nicht zu küssen“, sagte ich und stand schnell auf, um zum Telefon zu gehen. Frederik hielt mich am Handgelenk fest.
Ein paar Sätze einfach so
Doch schnell kam ein Aufschrei aus der Leseseele. Weil die doch jeden einzelnen Satz genießen wollte. Stumm vor den Sätzen stehen wie vor Gemälden. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Museum mit hunderten Stockwerken, darin aberhundert Kunstwerke. Satzkunstwerke. Und doch ist Museum das falsche Wort, denn die Lekys Sätze kann man anfassen, spüren, kauen. Es sind Sätze wie diese, eine zufällige Auswahl aller herausgeschriebenen.
Ich wollte (die Suche nach dem Hund Alaska, B.W.) nicht abbrechen, ich ahnte, dass jemand verloren ist, wenn man die Suche nach ihm unterbricht.
Die Leute im Dorf beargwöhnten ihr Herz, das so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt war und deshalb verstörend schnell klopfte.
Und dann sagte Heinrich das, was Selma zu mir gesagt hatte, als ich fünf Jahre alt gewesen und zu hoch in einen Baum auf der Uhlheck geklettert war. (…) Selma hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, die Arme nach oben gestreckt und mich festgehalten, während ich noch die Äste des Baumes umklammerte. „Lass los, hatte sie gesagt, „ich hab Dich.“
Das ist es, was man aus diesem Buch mitnimmt. Darum geht es im Leben, das ohne den Tod nicht zu haben ist. Dass da immer jemand steht, der sagt „Lass los. Ich hab Dich.“ Deswegen ist man so glücklich, trotz der vielen Tränen. „Keiner ist allein, solange er noch wir sagen kann.“ Das Eingangszitat ist für mich die Essenz dieses Buches.
Offene Fragen und ein Geschenk
Ob Auster als nächstes hier Thema sein wird? Ich weiß es nicht. Denn ein Leseleben-Erlebnis wie die Tage mit Selma, Louise, dem Optiker und all den anderen erinnert an etwas, das ich eigentlich weiß: Man hat es nicht in der Hand. Welches Buch das Denken bestimmt und verändert. Sie nehmen einen an der Hand.
„Selma führte ihre Gedanken spazieren und las derweil meine, die sich, seit Frederiks Besuch näher rückte, nicht spazieren führen ließen, sondern um mich und die umstehenden Bäume wickelten wie Buchstabengirlanden.“
Es gäbe noch so vieles zu schreiben. „Was man von hier aus sehen kann“ hat einen festen Platz im inneren Regal der unvergesslichen Lektüren. Neben der „Entdeckung des Himmels“. Und auch „4321“. Die Gedanken spazieren. Sätze wickeln sich. Viele Fragen sind offen.
„Das Okapi blickte sehr sanft, sehr schwarz, sehr nass und sehr groß. Es schaute freundlich und so, als wolle es Selma etwas fragen, als bedaure es, dass Okapis auch im Traum keine Fragen stellen dürfen.“
Warum dürfen sie nicht? Sollte mir eines begegnen, werde ich es fragen. Und mich keine Sekunde wundern über die Begegnung. Alles ist verwoben. Meinem Freund habe ich das Buch bereits geschickt.
Marianna Leky:Was man von hier aus sehen kann. DuMont, 320 Seiten, ISBN 978-3-8321-9839-8
Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Rororo, 880 Seiten, ISBN 978-3-499-13476-0