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Juli 2019

Mein Begeisterungsproblem: Rückschau und Aussichten

„Am Ende des Buches, das eigentlich kein Ende ist, weil die Nebel der Zukunft über die letzte Seite hinausgehen, lese ich noch einmal den Anfang…“ (Patti Smith, Hingabe)

Und dann nochmal die angestrichenen Stellen, nochmal und nochmal. Blättere vor und zurück, ziehe ein anderes Buch aus dem Regal, von dem in diesem die Rede war oder war es das davor? Jedenfalls taucht es plötzlich in den Gedanken auf, drängt sich vor, will bedacht, gesehen werden. Wie die anderen, die da liegen, jedes ein zu hebender Schatz.

Es war still die letzten Wochen hier auf Laufendlesen und das liegt nicht daran, dass ich nicht gelesen hätte. Oder nichts, dass es nicht wert wäre, darüber zu schreiben. Im Gegenteil: Die erste Hälfte dieses Jahres war so reich an Entdeckungen, dass mir manchmal schwindlig ist vor Glück. Dass ich am liebsten zehn Hände hätte, die unabhängig voneinander schreiben können. Jede über ein anderes Buch.

Patti Smith und Josephine  Rowe

Ich habe Patti Smiths neueste Perle „Hingabe“ (Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Kiepenheuer&Witsch) gelesen, viele Stellen mehrfach, immer wieder die Fotos betrachtet, da ging es mir nicht anders als damals bei der „Traumsammlerin“. „M Train“ liegt hier noch. Ich habe ein mitreißendes Debüt gelesen, „Ein liebendes, treues  Tier“ von Josephine Rowe (Deutsch von Barbara Schaden, Liebeskind). Was für eine Stimme. Mehr!

Lesley Nneka Arimah

Ein weiteres Debüt von vergleichbarer Kraft – und doch so ganz anders – sind die Erzählungen der nigerianischen Autorin Lesley Nneka Arimah, bei Culturbooks erschienen unter dem leider (auch im Original) unglücklichen Titel „Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt“. Die von Zoe Beck in wunderschönes Deutsch übersetzten Geschichten sind nämlich keine leicht konsumierbaren Love-Storys, sondern intensive Studien der Gefühle, Verbindungen, Verzerrungen und Verletzungen in Familien, zwischen Müttern und Töchtern, Freundschaften und ja, auch Beziehungen.

Francesca Melandri

Ich musste einfach und konnte nicht anders nach der unvergesslichen Lektüre von „Alle, außer mir“ schnell mehr von Francesca Melandri lesen und habe „Über Meereshöhe“ (Aus dem Italienischen von Bruno Genzler, Wagenbach) nur so weggesaugt. Der Kauf von „Eva schläft“ war danach ein logischer Schritt. Ich kann es kaum erwarten. Warten muss es dennoch, den gerade lese ich Ulrike Draesners eigenwilligen Roman „Kanalschwimmer“ (Mare), so atemlos, dass Charles, schwömme er ebenso durch den Ärmelkanal, es nicht schaffen würde.

Peer Martin

Und dann war da noch „Hope“ von Peer Martin (Dressler), als „Jugendbuch“ kategorisiert, aber wer im Zuge einer unfassbar spannenden Lektüre noch erschüttert werden will von neuen Erkenntnissen, mehr Wissen und beinahe minütlichem Begreifen, wie alles zusammenhängt, der lese es. Gebe es seinen großen Kindern (ab 16 Jahre), rede mit ihnen darüber und ermutige sie, nie aufzuhören, darüber zu reden. Klimawandel, Flucht, Krieg, Drogen, Unterdrückung, Misshandlung, die Folgen unseres Lebensstils für den großen Rest der Welt, alles ist drin. Schwerer Stoff, nur zu ertragen wegen dem, was Menschen eben auch vermögen: Zu lieben. Einander zu helfen. Selbstlosigkeit. Treue. Mut. Auch davon kriegt man reichlich. Und geht sehr verändert aus dem Buch heraus.

Maeve Brennan und Paul Auster 

Folgen hatte auch die Lektüre von Michaela Karls Biographie über Maeve Brennan. Ich habe das Buch wegen des Titels gekauft und freue mich jeden Tag an seinem Rücken: „Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen“ (Hoffmann und Campe) ist aber so viel mehr. Eine Welt hat sich geöffnet. Und zwei Bücher ins Haus geschubst. Ich hatte vorher nie etwas von Maeve Brennan gelesen, ja, nicht einmal von ihr gehört. Dabei ist sie Kolumnistin, wie ich! Jedenfalls liegen die „New Yorker Geschichten“ und die „Dubliner Geschichten hier“ (Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Steidl) und ich freue mich wie verrückt darauf. Sie reisen mit nach Italien, wie auch Paul Austers „4321“ (Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl, Rowohlt), das ich vor Monaten anfing und unterbrechen musste. Nun beginne ich erneut und vermutlich wird es der schönste Italien-Urlaub von allen.

Kornelius Wilkens und ich

Aus zwei Gründen. Denn nicht nur die vielen Bücher und die Entscheidungsschwäche, über welches ich zuerst schreiben soll – das alte Begeisterungsproblem – haben mich von Laufendlesen ferngehalten, sondern auch ein noch ungeborenes Buch. Doch wenn wir wiederkommen aus der sogenannten „grünen Mitte Italiens“ (dabei hat Umbrien doch alle Farben der Welt),  dann ist es da. Gedruckt. Zum Anfassen. Zum Kaufen. Zum drin lesen und daraus vorlesen. Zum Bewundern und Sichwundern und Staunen und Rätseln – Kornelius Wilkens‘ Bilder machen all das mit einem und noch mehr.

„Ansichten in stillem Blau“ erscheint am 1. August im Treibgut-Verlag und deswegen heißt die Rubrik, unter der bis gestern unsere gemeinsame Arbeit auf LaufendLesen zu sehen war – und in der jetzt ein „Blick ins Buch“ möglich ist –, nicht mehr „Text und Bild“, sondern „Bücher“. Das nächste rumort nämlich schon. Umbrien 2019 wird nicht nur der schönste Italien-Aufenthalt, sondern auch der mit der vorfreudigsten Rückreise.

Im August geht es dann hier wieder um Bücher von anderen. Welche, weiß ich noch nicht. Sicher ist nur: Die Wahl wird hart. Das Begeisterungsproblem. Ich liebe es.

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