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barbara weitzel, pauschalismus
November 2018

Zeitungen Weglesen: Pauschalismus und Holzbein

Zeitungen ausgedünnt und weggelesen. Der Stapel ging bis in den September. In einer Spätsommer-Ausgabe schreibt Bernhard Pörksen, der sowieso immer wieder großes Nachdenkmaterial liefert, über Verallgemeinerungen, das schnelle Urteil, oder den „Pauschalismus“, wie er das nennt, der überall, im Privaten wie in der Politik, am Flughafen (da beginnt sein Text) und in den Medien und auch hier unentwegt und immer wirkungssicher funktioniert: Man sieht jemanden, scannt kurz die äußeren Merkmale und/oder das, was er/sie sagt und Zack! Schublade.

Gutmensch Fundamentalist Nazi Moralist Populist Yuppie Mutti Nationalist Lügenpresse, Prekariat Übereltern schlechte Mütter Religiöse (Beispiele vom Autor und von mir) … endlos. Doch:

„Was passiert, wenn man ein solches Wort angeklebt bekommt, tief drinnen im Gehölz der eigenen Seele? Sagt man: Stimmt, >Stimmt, ich muss nochmal nachdenken! Danke, dass ihr mir den Spiegel vorhaltet<? Natürlich nicht. Die pauschale Attacke macht es, wenn man gerade vor aller Augen an den Marterpfahl genagelt oder auf Twitter angebiestert wird, schwer bis unmöglich die eigene Position zu überdenken, eigene Fehler und Übertreibungen zu überdenken, sich berührbar zu zeigen, verletzt.“

Und weil das dann – natürlich – unmöglich ist, sondern man zurückknallt oder verstummt (fraglich, was schädlicher ist), greift, wie Pörksen es formuliert „das Gesetz der fortschreitenden Diskursvergiftung“. Tausendmal gedacht, doch nie hätte ich es in so einen Begriff packen können. Und die Lösung? Natürlich nicht das Ende des Diskurses. Aber ein bisschen wieder „den Anfänger-Geist trainieren.“ Nuancen wahrnehmen und gelten lassen. Pörksen beruft sich hier auf einen Zen-Meister, aber ich glaube, den Buddhismus braucht es gar nicht, um sich erst einmal auf „urteilsfreie Nichteinmischung“ einzulassen, bevor man wirkungsmächtig blökt. „Eigene Gewissheiten und Wahrheiten für den Moment verblassen lässt – zugunsten eines tiefen Verstehens und einer echten, unvermittelten Begegnung.“

Dass das nicht immer einfach ist, vielmehr meistens schwer, ist so klar und deutlich wie die viel größeren Erfolge im Aufmerksamkeitswettlauf, wenn man schnell mit Kategorien zur Hand ist. Und die Zufriedenheit ist wohlig, wenn man eine Schublade schließen kann.

Aber wie viel größer ist das Knistern im Kopp, wenn man noch so ein Beispiel liest? Ich schreib das mal ab, allein, um nochmal zu lachen. Denn nicht in die bequemen Rituale zu verfallen und sie stattdessen zu entlarven, macht ja auch noch Spaß.

„Unnachahmlich parodiert hat diesen Mechanismus einmal der Musiker Frank Zappa, als ihn der Journalist Joe Pye in den sechziger Jahren in einer Talkshow interviewte. Joe Pye war ein früher Protagonist der Brüll- und Spekatakelshows im amerikanischen Fernsehen, bekannt für seine Lust an der Pöbelei. Und er hatte nach einer Beinamputation ein Holzbein. Pyne begann das Gespräch: >Sie haben so lange Haare. Sind Sie etwa eine Frau?< Zappas Reaktion: >Sie haben ein Holzbein. Sind Sie etwa ein Tisch?<

In diesem Sinne: Lasst uns mal wieder ohne Geländer denken ( H. Arendt). Streiten geht trotzdem.

 

 

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